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Das Vermaechtnis des Will Wolfkin

Das Vermaechtnis des Will Wolfkin

Titel: Das Vermaechtnis des Will Wolfkin
Autoren: Steven Knight
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Priesterrock geschaut und gesehen, dass seine Beine so rosa wie die eines Flamingos seien. Und manchmal, wenn ich das Gefühl hatte, das Leben sei einfach nur ungerecht, leckte Shipley immer wieder »ist ja gut, alles ist gut« in meine Hand.
    Im Sommer hielt er mit seinem Schwanz die Fliegen von meinem Gesicht fern, im Winter rollte er sich auf meinem Schoß zusammen und wärmte mich, schnurrend und fast elektrisch vibrierend, wie es Katzen so an sich haben. Ich wünschte mir mehr als alles auf der Welt, ihn zu streicheln, aber ich glaube, er verstand, dass ich es nicht konnte – und wer weiß, vielleicht war er sogar froh darüber.
    Manchmal war ich sicher, dass ich meine Gedanken auf ihn übertragen konnte. Dann dachte ich mir Kommandos aus wie »springen«, »kratzen«, »schnurren«, und ab und zu schien Shipley tatsächlich zu verstehen. Wenn er den Kopf schräg hielt und mich mit diesen grünen Augen – grün wie ein Eichenblatt – ansah, dann war es, als erhelle ein sanfter Lichtstrahl meinen Kopf, um all das Düstere daraus zu vertreiben. Ich grübelte oft, warum ich mit spitzen Ohren auf die Welt gekommen war. Vielleicht hatte ich ja bei meiner Geburt etwas von einer Katze in mir und vielleicht erklärte das meine enge Beziehung zu Shipley.
    Oft begleitete Shipley mich in meinen Träumen und verwandelte sich, wenn ich in Gefahr war, in einen Säbelzahntiger. Ein andermal marschierten wir Seite an Seite in den Kampf und unterhielten uns wie richtige Freunde. Nie konnte ich mich so genau erinnern, wie es zuging, dass er in meinen Träumen mit mir sprechen konnte, wo er doch eine Katze war, aber ich hatte gelernt, meine Träume nicht weiter zu hinterfragen. Träume waren schließlich die einzigen echten Abenteuer, die ich erlebte.
    Der schönste Augenblick im Jahr war, wenn die Schwalben zurückkehrten und ihr Nest hinter der Regenrinne vor der Klosterküche wieder in Besitz nahmen. Dann wusste ich, dass nun auch das warme Wetter zurückkehrte (mein Zimmer war ziemlich zugig). Die Schwalben waren zu zweit und ich hatte sie »Look« und »Leave« genannt. Schwester Mary erzählte, dass sie in Afrika gewesen waren, und ich wünschte, ich wäre als Schwalbe und nicht als Mensch geboren. Das war freilich damals, als ich noch glaubte, ich sei ein ganz gewöhnlicher Mensch.
    Der Tag, an dem diese Geschichte beginnt, war zufällig auch der Tag, an dem Look und Leave aus Afrika zurückkamen. Sie beginnt damit, dass Schwester Mary in mein Zimmer stürmte, einen Brief in der Hand und einen Ausdruck höchsten Erstaunens im Gesicht.
    »Toby!«, sagte sie und der Umschlag zitterte in ihrer Hand, »… ein Brief! Und er ist … an dich gerichtet!«

    Soweit ich wusste, hatte ich keinen einzigen Verwandten auf der Welt, zumindest keinen, der sich zu mir bekannte. Und meine einzige Freundin war Schwester Mary, die jetzt den Briefumschlag aufriss und dabei alle möglichen Erklärungen vor sich hin murmelte.
    »Wahrscheinlich Reklame … oder vielleicht wegen der Mehrfachimpfung … sieht aus wie etwas Offizielles vom Krankenhaus … aber die Adresse handgeschrieben …«
    Sie unterbrach ihr Tun und zeigte mir den Umschlag.
    »Sieh mal die Briefmarke! Der Brief kommt aus Island …«
    »Dann mach das verdammte Ding doch endlich auf!«, schrie ich stumm, und irgendwie hörte mich Schwester Mary tatsächlich.
    Ärgerlicherweise fing sie aber an zu lesen, ohne mir vorzulesen, und je weiter sie kam, desto größer wurden ihre Augen. Am liebsten hätte ich eine Vase gepackt und sie Schwester Mary über den Schädel geschlagen. Sie schnappte förmlich nach Luft, schüttelte den Kopf wie ein Hund, der gerade durch eine Pfütze gerannt war, las noch einmal … Am Ende legte sie die Hand an die Brust.
    »Toby!«, rief sie fast schrill, »der Brief ist von einem Arzt …« Sie unterbrach sich und nahm meine Hand. »Er schreibt, er hat etwas …« Sie ließ meine Hand los und atmete heftig ein. »Er schreibt, er möchte ein neues …«
    Die Stimme versagte ihr, und ich sah, wie ihre Gedanken rasten. Plötzlich faltete sie den Brief hastig zusammen und sprang auf.
    »Ich muss sofort zur Mutter Oberin«, sagte sie und stürmte aus dem Zimmer.
    So konnte Schwester Mary sein! Manchmal, wenn sie mir vorlas, machte sie sich einen Spaß daraus, absichtlich im entscheidenden Moment aufzuhören; dann klappte sie einfach das Buch zu und ließ mich die ganze Nacht schmoren. »Ein gutes Training für deine Fantasie«, sagte sie bei solchen
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