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Das Vermaechtnis des Will Wolfkin

Das Vermaechtnis des Will Wolfkin

Titel: Das Vermaechtnis des Will Wolfkin
Autoren: Steven Knight
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Gelegenheiten. Aber diese Sache mit dem Brief war anders, und ich sah Schwester Mary an, dass es dieses Mal kein Spiel war.
    Es dauerte zwei volle Stunden, ehe sie wieder in mein Zimmer kam, und schon als sie die Tür öffnete, spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Ich kannte Schwester Mary so gut, wie wahrscheinlich nur sie sich kannte, und sie konnte unmöglich etwas vor mir verbergen. Sie kam herein, gelassen lächelnd, in der Hand eine Schüssel mit diesem weißen Proteinpapp, den ich immer essen musste, und tat, als käme sie nur wegen des Essens zu mir. Ihr weißes Geschirrtuch unter den Kunststoffgürtel geklemmt, setzte sie sich neben mich und fing an: »Also …«
    Sie wollte mir den Brei in den Mund löffeln, musste aber schon an meinem Blick erkennen, dass ich mich weigern würde zu schlucken. Nur Schwester Mary konnte in meinem Gesicht lesen, und sie wusste , dass ich unbedingt mehr über diesen Brief erfahren wollte. Endlich stellte sie die Schüssel beiseite und wischte sorgfältig den Löffel ab, als wäre das im Augenblick das Wichtigste auf der Welt.
    »Du willst wahrscheinlich wissen, was in dem Brief steht«, sagte sie schließlich.
    »Ja doch!«, schrie meine lautlose Stimme.
    Schwester Mary warf rasch einen Blick zur Tür, wie immer, bevor sie mir etwas sagte, was sie nicht sagen sollte.
    »Die Mutter Oberin hat mich angewiesen, den Mund zu halten. Aber ich denke, die Katze ist nun schon ein Stück weit aus dem Sack, und deshalb sollte ich ihn wohl vollends öffnen …«
    Wenn Schwester Mary nervös war, konnte sie auf ziemlich überzeugende Art Unsinn reden.
    »Verstehst du, Toby, da schreibt ein Spinner von einem sogenannten Doktor aus Island – ausgerechnet Island! –, er hätte von dir und deiner Krankheit gehört und glaubt, er könnte dir vielleicht helfen.«
    Mary sah mich prüfend an und las in meinem Gesicht wie in einem Buch.
    »Siehst du«, sagte sie leise. »Es ist genau, wie die Mutter Oberin sagt. Falsche Hoffnung ist etwas Gefährliches.«
    Sie legte ihre Hände auf die Knie, eine Geste, die sie immer machte, wenn sie eine Erklärung abgeben und sie gleichzeitig als abschließende Bemerkung verstanden wissen wollte.
    »Wir haben zwei Stunden zugebracht, um diesen sogenannten Arzt im Internet ausfindig zu machen. Er ist leider nicht aufgetaucht. Auch das Institut, in dem er angeblich arbeitet, existiert nicht. Wir haben sogar mit einem netten Mann in Island telefoniert, der in einer Einrichtung wie der unseren arbeitet, und er sagt, er habe nie von diesem Doktor gehört … oder seinem sogenannten Heilmittel .«
    Das Wort Heilmittel brach wie eine wohldosierte Explosion aus Schwester Mary heraus, und da nur sie die kleinste Veränderung in meinem Gesichtsausdruck sehen und deuten konnte, bemerkte sie sogleich den Schaden, den dieses Wort bei mir hervorgerufen hatte.
    »Wir glauben jedenfalls, dass es sich um Betrügerei handelt. Da versucht einer, sich mithilfe unglücklicher Menschen, die mit einer ähnlichen Krankheit geschlagen sind wie du, zu bereichern.«
    Sie blinzelte nervös, ihre Hände lagen immer noch auf ihren Knien.
    »Also«, sagte sie. »Ein übler Trick. Die ganze Aufregung umsonst. Wenn du willst, hebe ich den Umschlag und die Briefmarke für dich auf.«
    Wieder blickte Schwester Mary in mein Gesicht und hatte im Nu meine Gedanken gelesen. Sie bemühte sich um einen geringschätzigen Ton und redete wie jemand, der Krümel vom Tisch wischt.
    »Nein, Toby, es hat absolut keinen Sinn, ihm zu antworten. Dieser Mann ist eindeutig ein skrupelloser Mensch. Wer weiß, welchen Schaden er anrichten würde?«
    Sie folgte meinem Blick durch die Fensterscheibe.
    »Oh, schau doch«, sagte sie, »die Schwalben sind aus Afrika zurück.«
    Nur noch einmal wagte sie einen raschen Blick in mein Gesicht und erkannte den stummen, wilden Protest hinter meinen Augen. Diesmal aber war sie, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit, nicht so entgegenkommend, meine Gedanken in Worte zu fassen. Sie nahm die Breischüssel und ging zur Tür. Kurz darauf schlüpfte Shipley ins Zimmer, sprang auf meinen Schoß und fing an, sanft meine Hand zu lecken.

    Inzwischen hatten Look und Leave drei Junge zu versorgen. Ich sah ihre grauflaumigen Köpfchen immer wieder über dem Nestrand auftauchen, wenn ihre erschöpften Eltern Fliegen und Würmer aus dem Gemüsegarten für sie heranschafften. Ich sah auch, wie eins der Kleinen von den andern aus dem Nest geschubst wurde, wie es zu Boden fiel und eine Weile
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