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Das Vermächtnis des Martí Barbany

Das Vermächtnis des Martí Barbany

Titel: Das Vermächtnis des Martí Barbany
Autoren: Chufo Lloréns
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nicht auftauchen, hängt Ihr zwei von den angesehensten Männern auf, und die Sache ist erledigt. Ich will Euch die Wahrheit sagen: Mir ist es sogar lieber, wenn sie schweigen. So erfahren alle, dass niemandem der Kopf sicher auf den Schultern sitzt. Ich erwarte, dass es keine weiteren bedauerlichen Vorfälle gibt, andernfalls werdet Ihr schon sehen, wie schnell die Namen der Frevler ans Tageslicht kommen.«

    »Aber, Herrin«, protestierte der Normanne, »dann büßen Gerechte für Sünder.«
    »Sagt mir doch, wenn Ihr es so genau nehmt, welche Schuld meine misshandelten Untertanen hatten. Wenn Ihr Euch vor Euren Hauptleuten rechtfertigen müsst, schreibt Ihr die Sache einem... ›Schelmenstreich‹ der alten Gräfin zu.«
    Beide verharrten in einem vielsagenden Schweigen. Der Krieger gewann seine würdige Haltung zurück. Er richtete seinen riesigen Körper hoch auf, und nach einer leichten Verbeugung verließ er den Raum mit langen Schritten. Hinter ihm erklang die Stimme der alten Ermesenda.
    »Was Euch betrifft, so tätet Ihr besser daran, manchmal das Bett Estefanías aufzusuchen, anstatt Eure Nächte mit Ausschweifungen, Wein und Würfeln zu vergeuden. Meine Tochter ist dumm, weil sie so gut ist... Ihr hättet auf mich stoßen sollen!«
    Roger de Toëny konnte sich nicht bezwingen, und bevor er die Flügel der Eingangstür aufstieß, drehte er sich schnell auf dem Absatz um und ließ vom Ende des Saals seine mächtige Stimme ertönen, die an den Wänden widerhallte.
    »Eher sterbe ich, Herrin! Eher sterbe ich!«
    Und er verließ den Raum und schlug die Tür hinter sich zu.
    Als die alte Gräfin allein blieb, nahm sie ihr Stundenbuch, das die geübten Finger eines Mönchs mit Miniaturen illuminiert hatten. Es war ein Geschenk ihres Bruders Pere Roger, des Bischofs von Gerona. Nun wollte sie sich der Lektüre widmen. Ein vergebliches Bemühen: Ihr Geist beschäftigte sich unaufhörlich mit den vielfältigen Episoden ihres turbulenten Lebens und erlaubte ihr nicht, ihre Gedanken zu sammeln. Sie erhob sich von ihrem Sitz und lief zu einem kleinen Schreibschrank, der einen Winkel des Raums ausfüllte. Sie nahm ein Fläschchen heraus und schenkte sich einen großzügigen Schluck Kirschwasser ein. Sie selbst hatte es in einem Zimmerchen destilliert, das sich in der Nähe des Weinkellers befand und mit Brennkolben und Phiolen ausgestattet war. Dann machte sie es sich an einem großen zweiteiligen Fächerfenster bequem. Sie setzte sich auf einen Faltstuhl aus mit Intarsien verziertem Edelholz und elegantem gepunztem Leder. Sie ließ ihren Gedanken freien Lauf. Sie war entschlossen, die Rechte ihres Gemahls Ramón Borrell auf die Grafschaften Gerona und Osona, die sie als Brautsteuer erhalten hatte, um jeden Preis zu verteidigen.

    Man schrieb das Jahr des Heils 992. Die barcelonische Abordnung, die Ramón Borrell nach Carcassonne begleitete, war eindrucksvoll. Die berittenen Edelleute eskortierten die mit Blumengirlanden geschmückten Wagen, in denen die Damen reisten. Aufsehen erregte das Pferdegeschirr mit den glänzenden Metallringen und dem blank geputzten ledernen Zaumzeug, und man bestaunte auch die weißen Zelter der Geistlichen. Die Lanzenspitzen der Soldaten sahen aus, als wären sie aus reinem Silber. Die Pauken und Trompeten dröhnten ohrenbetäubend: Die Paukenschläger gaben den Takt an, die Trompeten schmetterten ihre Akkorde in die Lüfte, und dazu flatterten ihre Fähnchen. Die Pracht und Anmut dieses Zugs konnte mit dem jedes Monarchen der Erde wetteifern. Das einfache Volk, das in dichten Reihen von der Straße und den Fenstern aus zuschaute, schwenkte Palmzweige, applaudierte bewundernd und streute eine Kaskade von Rosenblättern aus, wenn der Zug vorüberkam. Der rothaarige Herr, der die majestätische Kolonne führte, wollte die junge Gräfin dieses Volks ehelichen, und der Tag sollte in die Annalen Carcassonnes eingehen.
    Es schien Ermesenda, als wirkte die Hauptkirche an diesem Tag weihevoller denn je. Der Adel drängte sich auf den geschmückten Bänken, während das Volk an den Häusern zusammenströmte und sehen wollte, wie seine junge Gräfin vorbeikam. Als sie am Arm ihres Vaters die Schwelle des Gotteshauses überschritt und die Orgelklänge hörte, kam es ihr so vor, als stürzte ihr der Himmel auf den Kopf. Durch den dichten Schleier, der ihr Gesicht bedeckte, konnte sie den stattlichen hohen Herrn mit den langen roten Haaren beobachten, ohne selbst beobachtet zu werden. Er trug eine
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