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Das Vermächtnis des Martí Barbany

Das Vermächtnis des Martí Barbany

Titel: Das Vermächtnis des Martí Barbany
Autoren: Chufo Lloréns
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fest. Dann zupfte sie das Hemdgewand, den Unterrock und schließlich den Rock nach unten.
    »Wenn Ihr mir sagtet, dass ich mich in den Fluss stürzen sollte, ich würde es tun. Ich liebe Euch von ganzem Herzen, Amme! Wenn ich Euch nicht nach Barcelona mitnehmen könnte, hätte ich nicht geheiratet. Ohne Euch fühle ich mich verloren wie ein kleines Mädchen im Wald …«
    In Ermesendas Erinnerung überlagerten sich nun die Bilder zu einem Labyrinth, das sie verwirrte und das sie immer noch ängstigte, obwohl so viel Zeit vergangen war.
    Der Festsaal, in dem die Gäste beider Höfe zusammengekommen waren, bot einen faszinierenden Anblick. Der riesige Tisch reichte bis an beide Saalenden. Er war mit auserlesenen Speisen beladen. Dazwischen standen dicke Kandelaber, die die edlen Gerichte beleuchteten. Von gewaltigen Suppenterrinen stiegen köstliche Wohlgerüche auf, auf riesigen Platten lagen Hirsche, deren Körper beinahe vollständig auf Bratspießen steckten, und Fische, die man von den nahen Küsten des Mittelmeers hergebracht und in Eis frisch gehalten hatte. Daneben standen
unendlich viele Gläser, die mit den vielfältigsten und berühmtesten Weinen der Region angefüllt werden sollten. Genau an der Tischmitte befanden sich vier königliche Ehrensessel. Dort sollten ihre Eltern, Roger I. und Adelaida von Gavaldà, und die ihres Gatten, Borrell II. und Letgarda von Rouergue, Platz nehmen. Seitlich davon standen zwei kleinere Stühle: der ihres Gemahls neben dem ihrer Mutter und ihr eigener neben ihrem neuen Schwiegervater. Als sie eintraten, stimmten die Musiker auf der Tribüne ein heiteres Lied an. Die Grafen nahmen die Ehrensitze ein, und die Gäste suchten die ihnen zugewiesenen Plätze auf, wobei sie ein strenges Protokoll beachteten, das von ihrem Rang und Verwandtschaftsgrad abhing.
    Ermesenda erinnerte sich, dass sie am Beginn des Festmahls nicht einmal gewagt hatte, ihre Gäste anzublicken. Jetzt – erst jetzt – ordneten sich ihre Erinnerungen allmählich, und die Schlussszenen dieser einzigartigen Abendgesellschaft traten deutlich hervor. Die dem Paar gewidmeten Trinksprüche und Huldigungen wechselten einander ab, die Musik wurde lauter. Während des ganzen Abends konnte sie ihrem Gatten kaum einen Blick zuwerfen, sodass sie ihn nur flüchtig betrachtet hatte, als schon einige Damen kamen, um sie abzuholen und auf die Hochzeitsnacht vorzubereiten. Das Gelächter, der Lärm und Trubel waren so lebhaft, dass sie über die Grenzen des Saals hinaus erschallten. Die geschäftigen Diener liefen ständig hin und her, und außer ihrer Mutter, mit der sie einen innigen Blick wechselte, schien niemand zu bemerken, dass sie sich zurückzog. Vier Ehrendamen erwarteten sie am Eingang der Hochzeitskammer. Die Türen gingen auf, und Ermesenda befand sich an dem Ort, an dem sie die wichtigste Handlung ihres bisherigen Lebens vollziehen würde. Die Deckentäfelungen, die Wandteppiche, die alle Öffnungen bedeckten und verschlossen, um jeden möglichen und indiskreten Blick zu verhindern, die dicken Vorhänge, die das riesige Brautbett verbargen und die sie ganz genau kannte, weil sie hier als Kind mit ihrem Bruder Pere umhergestreunt war. Aus diesem Grund hatten sie der Kammer den Namen »Barkenzimmer« gegeben: eine geräumige, wie ein Schiff aussehende Lagerstatt mit einem Betthimmel. Das Bett schwebte auf vier dicken, vergoldeten Säulen, und man musste auf einer kleinen Trittleiter hochsteigen.
    Ihre umsichtige Amme wartete bei der dampfenden Badewanne, denn sie wusste ja genau, wie bedeutsam diese Nacht im Leben ihrer Pflegetochter sein würde. Ermesenda spürte, dass mehrere Frauenhände
sie entkleideten, bis sie ganz nackt dastand. Man setzte sie in die Badewanne, rieb sie danach trocken und salbte sie mit Ölen und Parfümen aus fremden Ländern, um ihre Haut von dem Dunst und den Gerüchen der Festspeisen zu befreien. Schließlich zogen sich die Damen zurück, und sie blieb mit ihrer Kinderfrau Brunilda allein. Diese steckte Ermesendas Haare mit Schildpattkämmen hoch und zog ihr behutsam ein kostbar besticktes Nachthemd über den Kopf. Gleich danach führte sie Ermesenda vor einen Spiegel, ein Geschenk ihres Gatten, das katalanische Kaufleute aus muslimischen Ländern mitgebracht hatten. Er bestand aus einer einzigen polierten Metallfläche, die ihren ganzen Körper zeigte. Ermesenda entdeckte einen senkrechten Schlitz, der auf beiden Seiten mit Borten verziert war und ihr Nachthemd gerade an ihrem
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