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Das verlorene Gesicht

Das verlorene Gesicht

Titel: Das verlorene Gesicht
Autoren: Iris Johansen
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Workaholic. Oder so ähnlich. Ich musste nur noch diese Messungen überprüfen, bevor –«
    »Ich weiß, ich weiß.« Joe betrat das Labor und ließ sich auf den Stuhl neben dem Schreibtisch fallen. »Diane hat mir gesagt, dass du die Verabredung zum Mittagessen hast platzen lassen?«
    Sie nickte schuldbewusst. Es war jetzt schon das dritte Mal in diesem Monat, dass sie Joes Frau absagte. »Ich habe ihr erklärt, dass die Kripo in Chicago die Ergebnisse braucht. Die Eltern von Bobby Starnes warten darauf.«
    »Stimmen sie überein?« »Weitgehend. Ich war mir schon fast sicher, bevor ich mit der Bildmischung begonnen habe. Im Schädel fehlen ein paar Zähne, aber die Zahnüberprüfung war ziemlich eindeutig.« »Und warum haben sie dich geholt?« »Seine Eltern wollten es nicht glauben. Ich war ihre letzte Hoffnung.« »Pech.« »Stimmt. Aber ich kenne diese Hoffnung selbst. Wenn sie erst die Übereinstimmung von Bobbys Gesichtszügen mit dem Schädel sehen, werden sie begreifen, dass es vorbei ist. Sie werden akzeptieren müssen, dass ihr Kind tot ist, und das war’s dann.« Sie betrachtete noch einmal das Bild auf ihrem Computer-Bildschirm. Die Kripo Chicago hatte ihr einen Schädel und ein Foto des siebenjährigen Bobby überlassen. Mit Video und Computer hatte sie nach dem Foto von Bobbys Gesicht und dem Abbild des Schädels ein Mischbild erstellt. Es hatte sich eine deutliche Übereinstimmung gezeigt. Bobby sah auf dem Foto so lebhaft und lieb aus, dass es einem das Herz brechen konnte. Aber Herzensbrecher sind sie alle, dachte Eve müde. »Bist du auf dem Weg nach Hause?« »Ja.« »Und bist nur hereingekommen, um mit mir zu schimpfen?« »Das sehe ich als eine meiner Hauptpflichten an.« »Lügner.« Sie warf einen Blick auf den schwarzen Lederkoffer in seiner Hand. »Ist der für mich?« »Wir haben in den Wäldern von North Gwinnett ein Skelett gefunden. Der Regen hat es zutage gefördert und die Tiere haben das ihre dazu beigetragen, dass nicht mehr viel davon übrig ist. Der Schädel ist aber unversehrt.« Er öffnete den Koffer. »Er ist von einem kleinen Mädchen, Eve.« Er sagte es ihr immer sofort, wenn es sich wieder um ein Mädchen handelte. Sie nahm an, dass er sie damit schützen wollte. Vorsichtig nahm sie den Schädel und betrachtete ihn. »So klein war sie nun auch wieder nicht. Sie war vielleicht elf oder zwölf.« Sie wies auf einen feinen Riss im Oberkiefer. »Sie war zumindest einen Winter lang der Kälte ausgesetzt.« Sanft berührte sie die breite Nasenhöhle. »Und sie hatte wahrscheinlich schwarze Hautfarbe.« »Das hilft uns vielleicht weiter.« Er verzog das Gesicht. »Sehr viel allerdings nicht. Du wirst sie nachbilden müssen. Wir haben keine Ahnung, wer sie sein könnte. Keine Fotos, die man darüber legen könnte. Weißt du, wie viele Mädchen in dieser Stadt von zu Hause weglaufen? Wenn sie aus den Slums kam, ist sie vermutlich nicht mal als vermisst gemeldet. Die Eltern sind meistens mehr damit beschäftigt, ihr Crack aufzutreiben, als ihre Kinder im Auge zu behalten.« Er schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid. Ich vergaß. Bin mal wieder ins Fettnäpfchen getreten.« »Passiert dir öfter, Joe.« »Nur in deiner Gegenwart. Dir gegenüber bin ich nicht so auf der Hut.« »Soll ich mich dadurch geehrt fühlen?« Konzentriert kniff sie die Augenbrauen zusammen, während sie den Schädel untersuchte. »Meine Mutter ist doch schon seit Jahren nicht mehr auf Crack. Außerdem, es gibt zwar vieles in meinem Leben, weswegen ich mich schäme, aber dass ich in den Slums aufgewachsen bin, gehört nicht dazu. Ich hätte womöglich gar nicht überlebt, wenn ich nicht durch eine so harte Schule gegangen wäre.« »Du hättest überlebt.« Da war sie sich nicht so sicher. Sie war schon zu nah am Abgrund gewesen, als dass ihr Gesundheit oder Überleben als selbstverständlich erschienen. »Tasse Kaffee gefällig? Wir Slum-Kids machen hervorragenden Java.« Er zuckte zusammen. »Autsch. Ich hab doch gesagt, dass es mir Leid tut.« Sie lächelte. »Ich wollte dich nur ein bisschen pieksen. Für deine Verallgemeinerungen hast du’s verdient. Kaffee?« »Nein, danke. Ich muss nach Hause zu Diane.« Er erhob sich. »Es besteht keine Eile, wenn sie schon so lange vergraben war. Ich sagte ja, wir wissen nicht einmal, nach wem wir suchen.« »Ich werde mich nicht hetzen. Ich werde mich nachts mit ihr beschäftigen.« »Tja, du hast ja Zeit genug.« Er betrachtete den Stapel Lehrbücher auf dem Tisch.
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