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Das verlorene Gesicht

Das verlorene Gesicht

Titel: Das verlorene Gesicht
Autoren: Iris Johansen
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immer für sie da war. Selbst in jener Nacht am Gefängnis, als sie sich so verlassen wie nie zuvor gefühlt hatte. Sie wollte aber nicht mehr daran denken. Die Verzweiflung und der Schmerz waren immer noch so lebendig wie – Also doch daran denken. Sie hatte begriffen, dass sie nur überleben konnte, wenn sie sich dem Schmerz stellte. Fraser war tot. Bonnie war tot. Sie schloss die Augen und ließ sich von den Qualen überfluten. Als es besser wurde, öffnete sie die Augen wieder und ging an ihren Computer. Arbeit half immer. Bonnie mochte vielleicht verloren sein und nie gefunden werden, aber es gab andere – »Hast du schon wieder einen?« Sandra Duncan stand in der Tür, sie trug einen Pyjama und ihren Lieblingsmorgenmantel aus rosa Chenille. Ihr Blick war auf den Schädel gerichtet. »Ich dachte, ich hätte jemand in der Einfahrt gehört. Man sollte meinen, Joe würde dich endlich in Ruhe lassen.« »Ich will gar nicht in Ruhe gelassen werden.« Eve setzte sich an den Schreibtisch. »Kein Problem. Es ist nicht so dringend. Geh wieder ins Bett, Mom.« »Du gehst ins Bett.« Sandra Duncan ging hinüber zu dem Schädel. »Ist er von einem Mädchen?« »Ja. So zehn oder elf Jahre.« Einen Moment herrschte Schweigen. »Du wirst sie nicht mehr finden, das weißt du doch. Bonnie ist weg. Find dich damit ab, Eve.« »Ich habe mich längst damit abgefunden. Ich mache einfach meine Arbeit.« »Blödsinn.« Eve musste lächeln. »Leg dich wieder hin.« »Kann ich etwas für dich tun? Soll ich dir eine Kleinigkeit zu essen machen?« »Ich lasse mir doch von dir nicht meinen Verdauungsapparat sabotieren.« »Ich tue mein Bestes.« Sandra machte ein gequältes Gesicht. »Manche Menschen sind einfach nicht zum Kochen bestimmt.« »Du hast andere Vorzüge.« Ihre Mutter nickte. »Ich bin eine gute Gerichtsreporterin und ich kann verdammt gut herumnörgeln. Gehst du jetzt ins Bett oder willst du eine Kostprobe?« »Noch eine Viertelstunde.« »Ich denke mal, die kann ich dir noch zugestehen.« Sie ging zur Tür. »Aber ich passe auf, ob ich die Schlafzimmertür höre.« Sie zögerte einen Moment. »Morgen Abend komme ich übrigens nicht direkt von der Arbeit nach Hause. Ich bin zum Abendessen verabredet.« Überrascht sah Eve auf. »Mit wem?« »Mit Ron Fitzgerald. Ich habe dir schon von ihm erzählt. Er ist Anwalt bei der Bezirksstaatsanwaltschaft. Ich mag ihn.« Ihr Tonfall klang fast trotzig. »Er bringt mich zum Lachen.« »Also gut. Ich würde ihn gerne kennen lernen.« »Ich bin nicht wie du. Es ist ziemlich lange her, dass ich mal mit einem Mann ausgegangen bin, und ich muss unter Leute. Ich bin doch keine Nonne. Herrgott noch mal, ich bin noch nicht mal fünfzig. Mein Leben kann nicht vorbei sein, bloß weil –« »Warum tust du so schuldbewusst? Habe ich irgendwann gesagt, du sollst zu Hause bleiben? Du kannst doch tun und lassen, was du für richtig hältst.« »Ich gebe mich schuldbewusst, weil ich Schuldgefühle habe.« Sandra verzog das Gesicht. »Du würdest es mir leichter machen, wenn du nicht so hart gegen dich selbst wärst. Du bist diejenige, die sich wie eine Nonne aufführt.« Herrgott, musste ihre Mutter heute Abend schon wieder damit anfangen? Sie war zu müde, sich darauf einzulassen. »Ein paar Beziehungen hatte ich.« »Bis sie deiner Arbeit in die Quere gekommen sind. Länger als zwei Wochen hielten sie nicht.« »Mom.« »Okay, okay. Ich finde einfach, es wird höchste Zeit für dich, mal wieder ein normales Leben zu führen.« »Was für den einen normal ist, muss für den anderen noch längst nicht gelten.« Sie widmete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Computer-Bildschirm. »Und jetzt verschwinde. Ich will das hier noch zu Ende bringen, bevor ich schlafen gehe. Komm auf jeden Fall morgen Abend rein und erzähl mir, wie dein Abendessen war.« »Damit du dich daran hochziehen kannst?«, gab Sandra spitz zurück. »Vielleicht erzähl ich’s dir, vielleicht aber auch nicht.« »Du wirst es mir schon erzählen.« »Wenn du meinst.« Ihre Mutter seufzte. »Gute Nacht, Eve.« »Gute Nacht, Mom.« Eve lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie hätte es eigentlich merken sollen, dass ihre Mutter immer rastloser und unglücklicher wurde. Nach dem Entzug war emotionale Labilität immer gefährlich für eine Süchtige. Aber verdammt noch mal, Mom war seit Bonnies zweitem Geburtstag clean. Noch ein Geschenk, das mit Bonnies Geburt verbunden war. Wahrscheinlich übertrieb sie bei der Einschätzung des Problems.
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