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Das Verlies

Das Verlies

Titel: Das Verlies
Autoren: Andreas Franz
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schaute nicht einmal hin.
    »Und wie war’s in der Schule? Habt ihr eine Arbeit geschrieben?«
    »Nein, erst am Mittwoch.«
    »Und was? Jetzt lass dir nicht alles aus der Nase ziehen.«
    »Englisch.«
    »Du hast doch hoffentlich dafür gelernt, oder?«
    »Ja.«
    »Dann ist es ja gut«, sagte Rolf Lura und begann zu essen.
    Markus warf seiner Mutter einen Blick zu, die diesen auch diesmal nur kurz erwiderte. Rolf Lura hasste es, wenn sie und Markus sich leise unterhielten oder sich vielsagend anschauten. Manchmal schien es, als würde er Gedanken lesen können.
    Die restliche Zeit während des Essens verbrachten sie schweigend, ein Schweigen, das für Markus wie ein lauter Schrei war, den jedoch keiner außer ihm hörte, denn er spürte, es würde in dieser Nacht noch etwas geschehen, von dem er aber hoffte, es würde nicht geschehen.
    Nach dem Essen räumte Gabriele Lura den Tisch ab und verstaute das Geschirr in der Spülmaschine, während ihr Mann sich eine weitere Zigarette anzündete und dabei die Tagesschau anstellte.
    »Wann hast du morgen Schule?«, fragte er nebenbei seinen Sohn.
    »Um acht.«
    »Dann mach dich fürs Bett fertig. Ich will, dass du um halbneun in der Falle liegst. Und vergiss nicht, dir die Zähne zu putzen.«
    Markus ging ins Bad, wusch sich die Hände und das Gesicht und putzte die Zähne. Auf dem Flur kam ihm seine Mutter entgegen.
    »Mutti …«
    »Pssst.« Sie legte einen Finger auf ihre Lippen und schob Markus in sein Zimmer. »Geh schnell ins Bett und schlaf. Versprochen?«
    »Mutti, ich …«
    »Keine Angst, mir wird nichts passieren. Und jetzt schlaf schön. Die Engel werden auf dich aufpassen.«
    »Ich will aber, dass sie auf
dich
aufpassen.«
    »Das tun sie schon«, sagte sie aufmunternd lächelnd und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Vielleicht ist bald alles vorbei. Wir dürfen nur die Hoffnung nicht aufgeben.« Und nach einer kurzen Pause, während der sie Markus liebevoll anschaute und ihm mit einer Hand übers Haar strich: »Mach dir keine Sorgen, ich glaub, seine schlechte Laune ist schon wieder vorbei. Und denk an die Engel.«
    Sie hatten nicht gehört, wie Rolf Lura die Treppe hochgekommen war, in der Tür stand und fast alles mitbekommen hatte.
    »Ja, ja, denk an die Engel«, sagte er mit zynischem Lächeln und trat näher an das Bett heran. »Was habt ihr beide denn wieder für Geheimnisse zu bequatschen? Wir sind eine Familie, und da sollte es doch eigentlich keine Geheimnisse geben. Also, um was ging’s?«
    »Ich hab Markus nur gute Nacht gesagt, mehr nicht«, antwortete Gabriele Lura.
    »Aha, mehr also nicht. Und dazu müsst ihr so flüstern. Ich wünsche meinem Sohn ebenfalls eine gute Nacht.« Und an seine Frau gewandt: »Und jetzt komm, ich hab was mit dir zu besprechen.«
    »Gleich.«
    »Nicht gleich, sondern sofort! Es ist halb neun, und ich habe gesagt, Markus wird um halb neun schlafen. Los jetzt!«
    Markus schluckte schwer, als sein Vater an der Tür stand und seine Mutter an ihm vorbei nach draußen huschte. Rolf Lura schloss leise die Tür hinter sich, und als seine Frau wieder nach unten in den Wohnbereich wollte, hielt er sie mit brutalem Griff zurück.
    »Die Richtung«, befahl er und zog wieder die Augenbrauen hoch. »Ich hab doch vorhin gesagt, dass ich etwas mit dir zu besprechen habe, und glaub ja nicht, ich hätte das vergessen. Ich vergesse nie etwas, merk dir das ein für alle Mal. Und jetzt da rein!«
    Er schubste sie ins Schlafzimmer, das unmittelbar neben Markus’ Zimmer lag, und kickte die Tür mit dem Absatz zu. Gabriele Lura stand in der Mitte des großen Zimmers mit dem begehbaren Kleiderschrank, der die ganze linke Seite einnahm und dessen Vorderfront mit orientalischen Intarsien versehen war. Eine dezente Beleuchtung verlieh diesem erlesenen Schrank etwas Transparentes. Die beiden unauffälligen Türen ließen sich geräuschlos öffnen, indem man sie leicht berührte und zur Seite schob und schließlich ins Innere gelangte, wo alle Kleidungsstücke in akribischer Ordnung hingen oder lagen, denn auch darauf legte Rolf Lura großen Wert, wie überhaupt alles in seinem Leben einer von ihm geschaffenen Ordnung zu entsprechen hatte. Ein feinfloriger hellbrauner Teppichboden machte jeden Schritt unhörbar. Jedes noch so kleine Detail in dem Zimmer war edel und kostbar, so wie alles in dem Haus, das Rolf Lura vor der Hochzeit vor dreizehn Jahren in Schwanheim im Südwesten von Frankfurt bauen ließ.
    Er stand jetzt etwa einen Meter vor seiner
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