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Das Verlies

Das Verlies

Titel: Das Verlies
Autoren: Andreas Franz
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Vergangenheit allmählich beseitigt, den Estrich und darüber die Fliesen gelegt, auf denen jetzt Teppiche waren. Er hatte die Wände gereinigt und gestrichen und die alten elektrischen Leitungen wieder angeschlossen.
    Als er ein Kind war, gerade mal acht Jahre alt, und bei einem seiner heimlichen Ausflüge diesen verlassenen Ort entdeckt hatte, war dies seine Zuflucht geworden. Hier hatte er seinen Gedanken nachhängen können, hierhin konnte er fliehen, wenn ihm die Gegenwart der andern zuwider war. Dabei waren es von hier nur knapp zwanzig Minuten zu Fuß bis zu seinen Eltern – wenn er rannte –, denen das gesamte Gelände bis zur Bundesstraße gehörte, vererbt über Generationen mütterlicherseits hinweg, und irgendwann würde er alles sein Eigen nennen.
    »Ich komme morgen wieder, Süße. Schade, du wolltest nicht mal meinen Namen wissen«, sagte er leise und mit einem letzten Blick auf die Tote und schloss die Tür hinter sich. Er nahm den Weg zurück zur Straße, nicht ohne sich vorher zu vergewissern, dass ihn niemand beobachtete.
    Nach einer guten halben Stunde langte er zu Hause an. Kaum dass er die Wohnung betreten hatte, klingelte das Telefon. Seine Mutter. Sie wollte nur wissen, wie sein Tag verlaufen war. Bestens, hatte er ihr geantwortet, worüber sie sich natürlich freute. Sie war stolz auf ihren Jungen, und er würde alles tun, um sie nicht zu enttäuschen. Er ließ sich Badewasser ein, trank ein Glas Rotwein und rauchte genüsslich eine Zigarette. Melissa hatte er es verboten, aber er konnte Rauch im Auto nun wirklich nicht ausstehen. Er trocknete sich ab und besah sich im Spiegel. Siehatte ihn doch einmal erwischt, ein etwas längerer Kratzer auf der linken Wange. Er zuckte mit den Schultern. Im Bett las er ein paar Seiten aus
Der Prozeß
von Kafka, legte das Buch aber, als seine Augen immer schwerer wurden, auf den Nachtschrank. Er fühlte sich irgendwie gut.

Montag, 14. Oktober, 19.15 Uhr
    Er hörte es an der Art, wie die Tür aufgeschlossen und wieder zugemacht wurde, wie der Mantel an die Garderobe gehängt wurde, an den Schritten, die langsam näher kamen. Er konnte schon seit langem unterscheiden, ob sein Vater gute oder schlechte Laune hatte. Wovon seine Laune abhing, vermochte er nicht zu sagen, wohl keiner vermochte dies, und es interessierte ihn auch nicht. Heute ahnte er, dass es nach langer Zeit wieder einer dieser Abende werden würde, die er so hasste und vor denen er sich so fürchtete. Doch noch viel mehr hasste er seinen Vater, der für all das verantwortlich war. Aber was sollte er mit seinen zwölf Jahren schon machen, er war hilflos und fühlte sich ohnmächtig. Und er hatte Angst vor dem, was unweigerlich wieder einmal kommen würde. Markus saß auf der Couch, der Fernseher lief, doch er schaute nicht mehr hin. Er wartete auf das Eintreten seines Vaters, alles in ihm war eine einzige unerträgliche Spannung. Er merkte, wie ihm das Schlucken schwer fiel, wie sich alles um seine Brust zusammenzog und es in seinen Händen anfing zu kribbeln.
    »Hallo, Papa«, sagte er, als sein Vater ins Zimmer trat, ein Mann von einsvierundsiebzig, schlank, mit dichtem blondem Haar, schmalen, wie ein Strich geformten Lippen und eisblauen Augen.
    »Wo ist deine Mutter?«, fragte Rolf Lura, ohne die Begrüßung zu erwidern.
    »Oben.«
    Rolf Lura machte auf dem Absatz kehrt und stieg die Treppe hinauf. Markus erhob sich, nachdem sein Vater außer Sichtweite war, und begab sich zum Treppenabsatz, um zu lauschen.
    »Gabriele?«
    Es war der typische Ton, kalt, hart, streng. Markus’Angst steigerte sich noch weiter, sein Herz pochte wie wild. Seit er denken konnte, war sein Leben von kaum etwas anderem als Angst geprägt.
    »Ja?«, erwiderte sie und kam aus dem Schlafzimmer gehuscht. Gabriele Lura war klein und zierlich, nur knapp einsfünfundfünfzig groß, mit vollem rötlich braunem Haar, grazilen Händen und einem sehr ebenmäßigen Gesicht, in dem das Hervorstechendste die sanften grünen Augen und der weiche, malerisch geschwungene Mund waren. Ihre Haut war von einem natürlichen zarten Weiß, das übersät war von unzähligen Sommersprossen.
    »Was ist mit Essen?«
    »Ist gleich fertig«, entgegnete sie und wollte sich an ihm vorbeiwinden, doch er hielt sie mit einer Hand am Oberarm fest.
    »Gleich fertig?«, sagte er mit hochgezogenen Augenbrauen und diesem kalten stechenden Blick. »Hatten wir nicht abgemacht, dass das Essen pünktlich um sieben auf dem Tisch zu stehen hat? Wir haben
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