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Das Verlies

Das Verlies

Titel: Das Verlies
Autoren: Andreas Franz
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kräftigen Stoß gegen die Brust, doch sie fiel nicht zu Boden. Sie drehte sich um und holte aus dem Putzschrankdie Handschaufel und den Besen und fegte wortlos die Scherben zusammen und schüttete sie in den Mülleimer. Anschließend fuhr sie mit dem Staubsauger über den Boden, um auch die letzten winzigen und mit dem Auge kaum sichtbaren Splitter aufzusaugen.
    Rolf Lura lockerte seine Krawatte und setzte sich in seinen Sessel, die Beine breit, und beobachtete seine Frau bei der Arbeit.
    »Was gibt’s eigentlich zu essen?«, fragte er mit plötzlich sanfter Stimme und erhob sich gleich wieder, umfasste seine Frau von hinten und presste seine Hände gegen ihre Brüste.
    »Szegediner Gulasch, dein Leibgericht. Und bitte, nicht jetzt, ich muss den Tisch decken.«
    »Und wenn ich jetzt Hunger auf was anderes habe? Was dann?«, fragte er und küsste sie auf den Hals.
    »Ich hab dir doch gesagt, dass ich meine Tage hab. Und jetzt lass mich den Tisch decken.«
    »Natürlich, tu das, wir haben auch später noch Zeit für die andern Sachen. Und du weißt, mir ist es egal, ob du deine Tage hast oder nicht«, entgegnete er und lächelte erneut maliziös, was sie zwar nicht sehen, aber spüren konnte, setzte sich wieder, zündete sich eine Zigarette an und nahm die Zeitung von dem kleinen runden Tisch neben seinem Sessel.
    Markus hatte sich, nachdem der erste Teller zu Boden gefallen war, mit weichen Knien auf sein Zimmer begeben, sich ans Fenster gestellt, hinausgeschaut und sich wie so oft gewünscht, irgendjemand würde kommen und ihn und seine Mutter aus diesem Horrorhaus befreien. Wie oft hatten sie sich unterhalten, wenn dieses gottverdammte Arschloch, wie er seinen Vater insgeheim titulierte, nicht da war, und sich geschworen, immer füreinander da zu sein. Und eines Tages würden sie es schaffen und abhauen, irgendwohin, wo er sie nicht finden konnte.
    Und keiner dort draußen wusste, was in diesem Haus vor sich ging. Für die Nachbarn war Rolf Lura der angesehene Autohändlereines riesigen Autohauses, in dem Rolls Royce und andere Nobelmarken sowie exklusive italienische Sportwagen wie Ferrari und Lamborghini verkauft wurden. Er war ein Meister im Sich-Verstellen, nach außen der integre, seriöse, höfliche Geschäftsmann, doch in den eigenen vier Wänden der brutale Tyrann, der allein mit seiner Anwesenheit ein ums andere Mal die Atmosphäre vergiftete. Es gab nur selten Tage, an denen er sich wie ein normaler Ehemann und Vater benahm, an denen man mit ihm reden konnte, ohne gleich angefaucht oder angeschrien oder wie Markus’ Mutter verprügelt zu werden. Auch wenn seine Wutausbrüche in letzter Zeit deutlich weniger geworden waren und in Markus und auch seiner Mutter die Hoffnung keimte, es würde eines Tages doch noch schön werden. Und jetzt kam er nach Hause, und alles war wieder wie früher.
    Er weinte nicht, als er am Fenster stand und in die Dunkelheit hinausstarrte, er hatte längst aufgehört zu weinen. Die Angst war so stark, dass sie keine Tränen mehr zuließ. Er wünschte sich nur einmal mehr, größer und vor allem stärker zu sein und seinen Vater so zu schlagen, wie er dies immer mit seiner Mutter machte. Er würde seine Fäuste so lange in das verhasste Gesicht schlagen, bis er blutend und um Gnade winselnd am Boden lag, in das Gesicht, in den Bauch, in die Genitalien, er würde ihn an den wenigen Haaren ziehen, bis er schrie und wimmerte und nur noch darum bettelte, am Leben gelassen zu werden. Nur einmal ihm das antun, was er seiner Mutter seit Jahren antat. Aber Markus war gerade einmal so groß wie seine Mutter und schmächtig, und es war diese furchtbare Angst, die ihn lähmte. Und es gab niemanden, der von dieser Angst wusste, außer seiner Mutter, die versuchte, so gut es ging, ihm diese Angst zu nehmen, und, wenn er seinen Vater mit den erbärmlichsten Flüchen belegte, auch noch mahnend meinte, er solle so etwas nicht sagen, schließlich sei er sein Vater und wäre ohne ihn nicht auf der Welt. Aber was war dies für eine Welt, in der er, seit er denkenkonnte, beinahe täglich von unsäglichen Angstzuständen geplagt wurde, Angst davor, eines Tages von der Schule nach Hause zu kommen und seine Mutter tot aufzufinden.
    Wie aus weiter Ferne hörte er seinen Namen rufen, löste sich vom Fenster und ging nach unten. Der Tisch war gedeckt, Markus’ Mutter begann aufzufüllen.
    »Hast du dir die Hände gewaschen?«, fragte Rolf Lura.
    »Ja«, log Markus und zeigte seine Hände. Sein Vater
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