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Das Verlies der Stuerme

Das Verlies der Stuerme

Titel: Das Verlies der Stuerme
Autoren: Boris Koch
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einen Gott zu haben, den man fürchten musste, denn das hieß, er war stark, und wer wollte schon einen schwachen Gott?
    Die Priester mit den freundlichen Goldmasken predigten, es sei die heilige Pflicht aller, den Kriecher gnädig zu stimmen, denn ansonsten würde sich die Dunkelheit aus der Tiefe erheben und die Sonne verschlingen und nicht nur ein Kind im Monat. Ein einziges Kind sei ein geringer Preis für ihrer aller Sonne, und Leben bedeute schließlich, Opfer zu bringen.
    Natürlich fürchteten die Hondorioner das Verlöschen der Sonne, aber ihre Kinder zu opfern, das gefiel ihnen auch nicht. Nach wenigen Jahren des Opferns paddelten sie zu benachbarten Inseln hinüber und entführten dort Kinder, um fortan diese zu opfern statt der eigenen. Schließlich war ihre Insel die größte, da konnte man sich schon einmal etwas herausnehmen. Und schien die Sonne nicht über allen? Half es nicht allen, wenn sie ihr Verlöschen verhinderten? Sie stellten den Opferblock und die Priester – war es da nicht nur recht, dass die anderen Inseln auch ihren Beitrag leisteten?
    Doch die Eltern der nächstgelegenen Inseln zeigten wenig Einsicht. Wenn sie auch keinen offenen Widerstand wagten, so versteckten sie dennoch die Kinder, sodass die Hondorioner jeden Monat lange suchen und manchen foltern mussten, bevor sie ein Opfer fanden. Um der Folter zu entgehen, entführten die Nachbarinseln nun ihrerseits Kinder
von noch kleineren Inseln und ließen diese für die Hondorioner gut sichtbar am Strand spielen. Auf diese Weise verstrichen die Jahrhunderte, und es geschah nur noch selten, dass das Kind eines Hondorioners auf dem Opferstein dargebracht wurde.
    Doch in der ersten Neumondnacht, nachdem viel weiter nördlich ein geächteter Drachenflüsterer ins Großtirdische Reich zurückgekehrt war, lag der neunjährige Vil’mka auf dem Opferblock und schrie und plärrte aus Leibeskräften. Seine Eltern kauerten daheim auf dem Bett, hielten sich die Ohren zu und hofften, dass das endlich enden möge. Doch Mitternacht kam und ging, und Vil’mka brüllte noch immer. Heiser und mit Unterbrechungen, aber deutlich vernehmbar. Und als der Morgen graute, krächzte er nur noch, aber er lebte.
    »Der Schwarze Kriecher hat ihn verschont«, jubelte seine Mutter.
    »Verschmäht«, brummte der Vater, und er sah dabei nicht glücklich aus. »Für unwürdig befunden.«
    Die Priester und alle anderen hielten es mit dem Vater, sie alle betrachteten den gefesselten Jungen voll Abscheu, keiner band ihn los, und der Mutter verbot man es.
    »Vielleicht kommt der Schwarze Kriecher erst morgen?«, bemerkte einer.
    »Ein Gott verspätet sich nicht«, sagten die Priester mit Nachdruck.
    »Dann ist ihm vielleicht etwas zugestoßen«, vermutete die Mutter.
    »Einem Gott stößt auch nichts zu«, sagten die Priester.
    »Dann hat ihn vielleicht jemand daran gehindert, herzukommen? «

    »Einen Gott hindert auch niemand!«, blafften die Priester.
    »Nun, wenn ihn niemand hindern kann, ihm nichts zustößt und er sich nicht verspätet, dann wird er gute Gründe haben, warum er meinen Sohn verschont hat«, sagte die Mutter. »Also sollten auch wir ihn verschonen und losbinden. Denn wie sollen wir das Verhalten des Kriechers denn sonst deuten?«
    Da konnten die Priester nicht widersprechen.
    Vil’mka wurden die Fesseln durchtrennt, und er bekam Wasser und Essen und wurde fortan der Junge, der nicht verschlungen wurde genannt und von den meisten Hondorionern gemieden, denn er war anders; ihr Gott hatte ihn zurückgewiesen.
    Auch in den folgenden Nächten wurde der Schwarze Kriecher weder gesehen noch gehört. Bald schon begannen die Kinder der Insel auch nach der Dämmerung noch draußen zu spielen, und manchmal sogar mit dem gemiedenen Vil’mka.
    Wenn die Eltern ihnen drohten, der Schwarze Kriecher würde sie holen, antworteten sie: »Das ist nicht gesagt, er holt nicht jeden.«
    Die Eltern murrten und wünschten sich die Furcht der Kinder zurück.
    Noch bevor der Monat vergangen war, verkündeten die Priester, der Schwarze Kriecher sei zum letzten Neumond nur nicht aus seinem Loch gekrochen, weil er bereits auf dem Weg zur Sonne sei, um sie zu verschlingen. Mit erhobenen Fingern deuteten sie auf eine einsame graue Wolke am Himmel. »Dahinter verbirgt er sich.«
    Panik breitete sich auf der Insel aus.
    »Was können wir tun?«, schrien die einen, die anderen
flehten den Kriecher hinter der Wolke an, sie nicht zu verlassen.
    »Wir haben unseren Gott erzürnt, er
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