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Das Verlies der Stuerme

Das Verlies der Stuerme

Titel: Das Verlies der Stuerme
Autoren: Boris Koch
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die Seeungeheuer fern«, sagte Yanko.
    »So ein Unsinn«, widersprach Ben sofort. »Das Wichtigste ist, dass man die Zehen spreizt. Auf keinen Fall zusammenkrallen, das lockt Seeungeheuer an wie ein fetter Wurm den Raubfisch.«
    »Wer krallt denn schon die Zehen zusammen! Nur angstzitternde Bleichköpfe.«
    »Schlafliedpfeifer.«
    »Mäusemelker.«
    »Nebenstraßenkriecher.«
    »Flautenschlotterer.«
    Die beiden Freunde standen auf einem nur zwei Hand breiten Sims mitten in einer hohen, senkrecht abfallenden Klippe und krallten die Finger in kleine Spalten. Ein gutes Dutzend Schritt in der Tiefe schwappte das leuchtend blaue Meer in sanften Wellen gegen den weißen Fels, über ihnen erstreckte sich die Klippe bestimmt weitere fünfzig oder sechzig Schritt. In den zahlreichen Rissen und Höhlungen nisteten hysterisch gackernde, weiß gefiederte Muschelelstern, brüteten ihre länglichen, grüngrau gesprenkelten Eier aus und ließen ab und zu hellen Kot in die Tiefe fallen.
    »Bitte, nach dir«, sagte Yanko, der eben an der Schulter getroffen wurde, und nickte lächelnd hinab. »Mädchen zuerst.«
    »Nein, nein, Säuglinge zuerst. Nach dir.« Ben erwiderte
das Lächeln und dachte, dass es wirklich verdammt weit hinunter ging. Gestern waren sie nur halb so hoch geklettert. Eine leichte Brise pfiff an der Klippe entlang, brachte aber kaum Kühlung. Hier im Süden brannte die Sonne schon im Frühling unerbittlich heiß auf sie herab.
    »Dämliche Drecksviecher, es langt!«, rief Yanko, der erneut von einer Ladung Muschelelsternkot getroffen wurde, diesmal auf den Kopf. Hastig wischte er sich mit der Hand durchs inzwischen lange dunkle Haar. Er hatte es wachsen lassen, während Ben seines weiterhin kurz schor, damit er nicht so aussah wie auf den Steckbriefen, und auch weil es Anula gefiel. Mit einem Triumphschrei sprang Yanko und drehte sich nach rechts, fluchte fürchterlich und ruderte mit den Armen, um die Richtung zu wechseln. Als wäre die Drehung nach links wirklich wichtig.
    »Die Zehen!«, brüllte Ben ihm hinterher. Gerade hatte er dem Kerl doch noch gesagt, worauf es wirklich ankam, und jetzt machte er doch so ein Theater wegen der völlig unbedeutenden Drehung. »Pass auf die Zehen auf!«
    Bevor Yanko reagieren konnte, schlug er mit zappelnden Gliedern auf dem Wasser auf und versank. Ben sah nur einen undeutlichen Schemen verschwinden, Gischt spritzte hoch, Wasser schwappte gegen die Bewegung der Wellen.
    Yanko tauchte nicht wieder auf.
    Ben stierte hinab, er konnte einfach nichts erkennen, immer neue Wellen rollten heran und die Zeit verrann. Er hoffte, dass Yanko nichts passiert war, dass er nicht auf einen Felsen geprallt oder von einem Ungeheuer geschnappt worden war.
    Hoffentlich hatte Yanko noch rechtzeitig die Zehen gespreizt! Angst packte Ben, aber er konnte nicht springen und
nachsehen; was, wenn Yanko genau in diesem Augenblick auftauchte? Er würde auf seinem Kopf landen und ihm den Hals brechen. Das wäre kaum hilfreich.
    »Komm schon«, murmelte er und befürchtete jeden Moment, dass sich Blut auf den Wellen ausbreiten würde, aber ihr Schaum blieb weiß. Eine um die andere schlug gegen den Fels, angespannt begann Ben sie zu zählen. Eins, zwei, drei, vier … Das konnte doch nicht sein!
    Endlich tauchte Yanko auf. Er prustete, ruderte wild mit den Armen und lachte, während Ben vor Erleichterung seinen Namen schrie.
    »Tauch so tief du kannst!«, brüllte Yanko. »So tief du kannst. Und dann achte auf den Fuß der Klippe!«
    »Mach ich!«, rief Ben und warf einen kurzen Blick zur Bucht hinüber, wo die vier Drachen in der Sonne lümmelten und die Mädchen im Sand saßen. Nicas blondes Haar leuchtete in der Sonne, Anulas helle Haut glitzerte wie ein zugefrorener Weiher; diese Spuren vom eisigen Atem des weißen Drachen waren ihr geblieben, auch wenn seine lähmende Kälte sie längst verlassen hatte. Die beiden sahen nicht herüber. Typisch Mädchen. Nichts bekamen sie mit, aber nachher wollten sie alles erzählt bekommen.
    Lächelnd sprang Ben und spreizte die Zehen so weit er konnte. So weit, dass er einen Krampf bekam und sie zusammenkrallte, direkt bevor er auf dem Wasser aufschlug.
    Fluchend riss er den Mund auf und schluckte Salzwasser, worüber er erneut eine Schimpftirade loslassen wollte und wieder Salzwasser zwischen die Zähne bekam. Er spreizte die Zehen wieder, presste die Lippen fest aufeinander und ließ sich in die Tiefe sacken. Als er langsamer wurde, stieß er mit Kopf und Armen
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