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Das Verhör

Das Verhör

Titel: Das Verhör
Autoren: Robert Cormier
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Beherrschung verloren, bist böse geworden, so etwas geht schnell, du wolltest es gar nicht tun, aber die Situation geriet außer Kontrolle. Ganz in der Nähe lag ein Stein -«
    »So war das nicht«, sagte Jason. Seine Stimme stieg an und wurde so laut, dass sie förmlich von den Wänden abzuprallen schien.
    »Wie war's denn wirklich?« Mit Triumph in der Stimme.
    Jason fuhr zurück, als hätte sein Gegenüber ihm ins Gesicht geschlagen oder in den Magen geboxt. Sein Bauch fühlte sich plötzlich ganz hohl an, der Darm regte sich. Plötzlich musste er dringend aufs Klo.
    Trent sah die Panik in den Augen des Jungen, den schieren Schmerz, der ihm das Gesicht verzerrte, die zitternden Lippen, die protestierend erhobenen Hände. Es war, als wäre sein Körper plötzlich geschrumpft, als müsste er sich klein machen, um aus der Falle zu entkommen, in die er unversehens hineingetappt war.
    Und in einem blitzartigen Moment hatte Trent die unumstößliche Erkenntnis, dass der Junge unschuldig war, wusste im innersten Kern seines Wesen, jenseits aller Zweifel und Täuschung, dass Jason Dorrant Alicia Bartlett nicht ermordet hatte. In seinen Verhören hatte Trent schon so viele Ausflüchte erlebt, so viele Beteuerungen gehört, dass er keinerlei Zweifel hatte. Jason Dorrant war unschuldig. Die Summe aus Körperbewegungen, den spontanen Reaktionen, der fehlenden Verschlagenheit in seiner Stimme und dem ganzen Gebaren - das alles fügte sich unausweichlich zu dieser Wahrheit zusammen.
    Bestürzt und enttäuscht runzelte Trent die Stirn. Er dachte an Braxton und an den Senator, die auf ein Geständnis warteten, an die Stadt da draußen, in der Angst und Misstrauen herrschten. Alle warteten nur darauf, dass er mit einem Ergebnis überkam, ihnen den Mörder lieferte, sodass sie wieder ruhig schlafen konnten und sich heute Abend keine Sorgen machen mussten, wenn eine Tür nicht abgeschlossen war oder ein Sohn oder eine Tochter erst spät nach Hause kam. Das Versprechen des Senators hallte in seinem Kopf wider. Sie können selbst bestimmen, welche Tür sich Ihnen öffnen soll.
    Er sah den Jungen an. So zerbrechlich zart in seiner Unschuld und Naivität. So verwundbar. Fügsam. Ohne Abwehrmechanismen, bereit, sich lenken und formen zu lassen. So wie andere sich hatten lenken und formen lassen - dieser Gedanke huschte ihm wie ein Schatten durch den Kopf. Vielleicht irre ich mich ja, dachte er. Vielleicht liegt mein Instinkt dieses eine Mal nicht so ganz richtig. Vielleicht ist der Junge schlauer, als er wirkt. Vorhin dieses plötzliche Aufblitzen einer Täuschungsabsicht - hatte der Junge in diesem Moment sein wahres Naturell enthüllt, einen kurzen Blick in seine Psyche gewährt, in der Schuld schlummerte?
    Ihm hatte immer davor gegraut, eines Tages jemanden verhören zu müssen, der der Inbegriff der Täuschung war, ihn in dem Spiel von Frage und Antwort, Angriff und Parade austrickste, ein Laie, aber trotzdem ein Meister seines Fachs, der ihn irgendwie durchschaute, alles vorausahnte, seinen Kniffen und Winkelzügen zuvorkam. Er dachte an die klassische Definition des perfekten Verbrechens: so perfekt, dass es nicht als Verbrechen wahrgenommen wird. Der perfekte Täuscher würde demzufolge so unschuldig aussehen, in seiner ganzen Erscheinung so rein und aufrichtig sein, dass man jegliche Schuld sofort ausschloss.
    Der Junge, der hier vor ihm saß - war er dieser perfekte Täuscher? Vielleicht, vielleicht... Oder täusche ich damit nur mich selbst?
    Trent wusste, dass jetzt der Augenblick der Entscheidung gekommen war, ob er weitermachte oder aufhörte. Eigentlich ganz einfach. Den Jungen entlassen und ihn in sein ganz normales Alltagsleben zurückschicken, ohne die geringste Ahnung, welchem Schicksal er gerade entgangen war. Oder sollte er tiefer bohren? Seine ganze List und Erfahrung zu Hilfe nehmen, um zu ergründen, ob in dem Jungen das Böse lauerte, ob der Anschein von Unschuld nur haargenau das war: äußerer Schein, eine Fassade, eine Maske.
    Aber du weißt, dass es nicht so ist.
    Trent überging die kleine Stimme, die sich in seinem Inneren erhob.
    »Jetzt mal in aller Ruhe«, hörte Trent sich sagen, in dem allervernünftigsten Tonfall, der ihm zur Verfügung stand. »Sehen wir uns doch einfach mal den Fall an, die Fakten, die gegen dich sprechen, und suchen dann nach Milderungsgründen.«
    Der Junge schüttelte den Kopf. »Warum sollten wir das tun? Wieso sollte die Polizei annehmen, dass ich...« Er legte eine Pause ein,
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