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Das unvollendete Bildnis

Das unvollendete Bildnis

Titel: Das unvollendete Bildnis
Autoren: Agatha Christie
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Anklagebank erschien, wusste ich, dass wir keine Chance hatten. Sie hatte nicht den geringsten Kampfgeist, und wenn der Angeklagte nicht in das Horn des Verteidigers bläst, ziehen die Geschworenen daraus natürlich ihre Schlüsse. Wir sind keine Zauberer. Die Schlacht ist schon halb gewonnen, wenn der Angeklagte einen guten Eindruck auf die Geschworenen macht. Aber Caroline Crale versuchte nichts dergleichen.»
    «Warum?»
    Sir Montague zuckte die Achseln.
    «Fragen Sie mich nicht. Natürlich hatte sie ihren Mann geliebt. Sie brach völlig zusammen, als sie sah, was sie angerichtet hatte. Ich glaube, sie hat sich nie von dem Schock erholt.»
    «Halten Sie sie für schuldig?»
    Depleach blickte ihn erstaunt an.
    «Ach… aber das ist doch selbstverständlich!»
    «Hat sie Ihnen je ihre Schuld eingestanden?»
    Depleach war entrüstet.
    «Natürlich nicht!… Natürlich nicht! Wir haben ja schließlich unseren Kodex. Unschuld wird natürlich stets vorausgesetzt. Es ist schade, dass Sie nicht mehr mit dem alten Mayhew sprechen können. Mayhew war ihr Rechtsberater und hatte mir den Fall übertragen. Der alte Mayhew hätte Ihnen viel mehr sagen können als ich, aber er ist inzwischen in die ewigen Jagdgründe eingegangen, und sein Sohn, der junge George Mayhew, war damals noch ein Kind. Es ist ja schon so lange her.»
    «Natürlich. Es ist überhaupt ein Glück für mich, dass Sie sich noch an so vieles erinnern. Ihr Gedächtnis ist erstaunlich.»
    Depleach murmelte geschmeichelt:
    «Na ja, man erinnert sich selbstverständlich an die Hauptsachen, namentlich, wenn es sich um einen Mord handelt. Der Crale-Fall hatte ja auch eine ziemliche Publicity-Erotik und all das. Und das Mädchen war auffallend genug. Eine tolle Nummer, das kann man sagen.»
    «Entschuldigen Sie bitte, wenn ich meine Frage wiederhole: Sie zweifelten also nicht an Caroline Crales Schuld?»
    Depleach antwortete achselzuckend: «Über die Schuldfrage gibt es keinen Zweifel. Sie hat es getan.»
    «Was für Beweise sprachen gegen sie?»
    «Sehr schwerwiegende. Zunächst einmal das Motiv. Sie und Crale lebten seit Jahren wie Hund und Katze zusammen… es gab einen Krach nach dem anderen. Er hatte immer Weibergeschichten; er konnte nicht anders. Im Großen und Ganzen hat sie es hingenommen, hielt ihm sein Temperament zugute – schließlich war Crale wirklich ein erstklassiger Maler. Für seine Bilder werden jetzt Phantasiepreise gezahlt. Mir liegt seine Malerei nicht sehr – er ist mir zu realistisch, aber die Bilder sind gut, das steht fest.
    Also, wie ich schon sagte, gab es immer wieder Schwierigkeiten wegen Frauen. Und Mrs Crale war nicht der Mensch, der still duldet. Sie hatten fortwährend Auseinandersetzungen, doch am Ende kam er immer wieder zu ihr zurück; seine Leidenschaft verrauchte schnell. Aber diese letzte Affäre war etwas anderes.
    Es war ein blutjunges Mädchen, kaum zwanzig Jahre alt. Elsa Greer hieß sie. Sie war die einzige Tochter eines Fabrikanten aus Yorkshire, hatte viel Geld, war hemmungslos und wusste, was sie wollte, und sie wollte Amyas Crale. Sie brachte ihn so weit, dass er sie malte. Im Allgemeinen malte er nämlich keine Porträts, keine dieser Gesellschaftsdamen, aber er malte nach Modellen. Ich kann mir denken, dass sich die meisten Frauen gar nicht gern von ihm malen ließen; er pflegte sie nicht zu schonen. Aber Elsa Greer malte er und verfiel ihr schließlich mit Haut und Haaren. Er war fast vierzig, wissen Sie, und schon seit langem verheiratet. Er war gerade reif, um sich wegen irgendeines jungen Dings zum Narren zu machen, und Elsa Greer war das geeignete Mädchen dafür. Er war ganz verrückt nach ihr, er wollte sich scheiden lassen und sie heiraten.
    Das aber schluckte Caroline nicht. Zwei Leute haben gehört, dass sie ihm drohte, sie würde ihn umbringen, wenn er das Mädchen nicht aufgäbe. Und es war ihr ernst damit. Am Tag vor dem Mord waren sie bei einem Nachbarn zum Tee, der Kräuter sammelte und heilkräftige Säfte braute. Darunter gab es einen namens Koniin – ein Schierlingsextrakt. Man sprach darüber und über seine tödliche Wirkung. Am nächsten Morgen stellte der Gastgeber fest, dass die Flasche halb leer war. Das hat ihn natürlich sehr aufgeregt. Später fand man ein fast leeres Fläschchen in Mrs Crales Kommode.»
    Poirot rutschte unbehaglich hin und her und sagte: «Das könnte jemand hineingetan haben.»
    «Nein, sie gestand bei der Vernehmung durch die Polizei, dass sie es genommen habe.
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