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Das unvollendete Bildnis

Das unvollendete Bildnis

Titel: Das unvollendete Bildnis
Autoren: Agatha Christie
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zwischen Leidenschaft und angeborenem Anstandsgefühl hin und her gerissen, förmlich vor sich.
    Doch als nach Schluss seiner Rede der Bann gebrochen war, konnte man diese geschilderte Idealfigur nicht mit dem wirklichen Amyas Crale in Einklang bringen. Man kannte Crale zu gut; das Bild passte nicht zu ihm. Ich möchte beinahe sagen, dass Crale überhaupt kein Gewissen hatte. Er war ein hemmungsloser, gutmütiger, vergnügter Egoist, der das bisschen Ethik, das er besaß, in Kunst umsetzte. Ich bin überzeugt, dass er nie nachlässig oder schlecht gemalt hätte, wenn die Verführung auch noch so groß gewesen wäre. Aber sonst war er ein Bruder Leichtfuß und genoss, was das Dasein ihm bot. Selbstmord? Niemals!»
    «Das war also ein unglücklich gewähltes Verteidigungsargument?»
    Fogg zuckte die Achseln.
    «Es war das einzig mögliche. Depleach konnte ja nicht gut behaupten, der Staatsanwalt habe keine Beweise gegen die Angeklagte vorgebracht; es waren eher zu viele. Sie hat selbst zugegeben, das Gift gestohlen zu haben. Es gab also Tatsachen, Motiv und Gelegenheit.»
    «Hätte man nicht versuchen können zu beweisen, dass alles böswillig arrangiert war?»
    «Sie hat ja fast alles zugegeben, und außerdem wäre das an den Haaren herbeigezogen gewesen. Sie wollen anscheinend behaupten, dass jemand anderes den Mord begangen und ihn ihr in die Schuhe geschoben hat?»
    «Halten Sie das für ausgeschlossen?»
    «Leider ja. Sie glauben doch nicht etwa an den großen Unbekannten? Wo sollte man den finden?»
    «In einem engen Kreis», antwortete Poirot. «Es waren fünf Leute, nicht wahr, die in die Sache verwickelt sein könnten?»
    «Fünf? Warten Sie mal. Der alte Trottel mit seinen Kräutersäften, ein gefährliches Steckenpferd, aber ein völlig harmloser Mensch. Der ist bestimmt nicht der große Unbekannte. Dann Elsa Greer… die hätte vielleicht Caroline vergiften können, nie aber Amyas. Und dann der Börsenmakler – Crales bester Freund. So was ist in Detektivromanen beliebt, aber in der Wirklichkeit gibt es das nicht. Und sonst war weiter niemand da… ach ja, die kleine Schwester, aber an die denken Sie wohl nicht im Ernst? Das wären vier.»
    «Sie haben die Gouvernante vergessen.»
    «Ja, das stimmt. An die erinnere ich mich nur noch dunkel. So um die vierzig, schlicht, tüchtig. Ein Psychoanalytiker würde vielleicht herausfinden, dass sie eine sündige Leidenschaft für Crale empfunden und ihn daher umgebracht habe. Die unterdrückte alte Jungfer! Aber soweit ich mich an sie erinnere, war sie bestimmt kein neurotischer Typ.»
    «Es ist schon lange her.»
    «Fünfzehn bis sechzehn Jahre. Sie können also nicht von mir erwarten, dass ich mich noch an alle Einzelheiten erinnere.»
    Poirot widersprach: «Im Gegenteil, es ist erstaunlich, wie gut Sie sich erinnern. Sie sehen doch alles noch genau vor sich. Es würde mich sogar sehr interessieren, lieber Freund, wieso Sie sich noch an alles so gut erinnern können. Was sehen Sie so deutlich? Die Zeugen? Die Geschworenen? Den Richter? Die Frau auf der Anklagebank?»
    Fogg antwortete ruhig: «Ja, sie! Ich sehe sie immer vor mir… es ist etwas Merkwürdiges mit der Romantik. Und sie hatte etwas Romantisches an sich. Ich weiß nicht, ob sie wirklich schön war… sie war nicht mehr ganz jung… sie sah müde aus, hatte Ringe unter den Augen, aber alles drehte sich um sie, das ganze Interesse, das ganze Drama. Und doch war sie die halbe Zeit überhaupt nicht wirklich da. Sie war irgendwo anders, weit fort – nur ihr Körper war da; sie gab sich gelassen, ruhig, liebenswürdig, hatte ständig ein freundliches Lächeln auf den Lippen. Es war alles fein abgestimmt bei ihr, verstehen Sie, Licht und Schatten. Und doch war sie lebendiger als die andere, als das Mädchen mit dem vollendeten Körper, dem schönen Gesicht, der strotzenden Jugend. Ich bewunderte Elsa Greer, weil sie Mumm hatte, weil sie kämpfen konnte, weil sie die Folter der Fragen über sich ergehen ließ, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber Caroline Crale bewunderte ich, weil sie nicht kämpfte, weil sie sich in ihre Welt mit den zarten Tönen zurückgezogen hatte. Sie wurde nicht besiegt, denn sie hatte keine Schlacht geliefert.»
    Er hielt einen Augenblick inne.
    «Ich weiß nur eines ganz bestimmt: Sie liebte den Mann, den sie getötet hatte, sie liebte ihn so sehr, dass die Hälfte ihres Ichs mit ihm gestorben war…»

3
     
    G eorge Mayhew war unverbindlich und vorsichtig.
    Er erinnerte sich
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