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Das unvollendete Bildnis

Das unvollendete Bildnis

Titel: Das unvollendete Bildnis
Autoren: Agatha Christie
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hätten sie auf der Anklagebank sehen sollen. Der alte Humple Rudolph, der damals mein Chef war, machte einfach Hackfleisch aus ihr. Hackfleisch! Er machte mit ihr, was er wollte.
    Zunächst befragte Depleach sie, und sie stand da wie ein gehorsames Schulmädchen bei einer Prüfung. Ihre Antworten klangen wie auswendig gelernt; denn man hatte ihr eingebläut, was sie zu sagen hatte. Es war nicht Depleachs Schuld. Der alte Fuchs spielte seine Rolle ausgezeichnet, aber zu einer Szene gehören zwei Schauspieler, einer allein schafft es nicht, und sie spielte nicht mit. Das Ganze machte einen verheerenden Eindruck auf die Geschworenen.
    Und dann stand der alte Humple auf. Ein Jammer, dass er nicht mehr am Leben ist. Mit einem Ruck schob er die Ärmel seines Talars zurück, wippte kurz auf den Zehenspitzen… und dann ging’s los! Wie ich schon sagte, machte er Hackfleisch aus ihr. Er wies auf dieses hin und auf jenes, und stets ging sie in die Falle. Er zwang sie, die Unwahrscheinlichkeit ihrer Aussagen zuzugeben, verwickelte sie in Widersprüche, bis sie in ihrem eigenen Netz zappelte. Und dann kamen seine Schlussworte, logisch, unwiderlegbar:
    ‹Ich behaupte, Mrs Crale, dass Ihre Geschichte, das Koniin gestohlen zu haben, um Selbstmord zu begehen, erlogen ist. Ich behaupte, dass Sie es gestohlen haben, um Ihren Mann zu vergiften, der im Begriff war, Sie um einer anderen Frau willen zu verlassen. Ich behaupte, dass Sie diese Tat mit vollster Überlegung begangen haben?›
    Und sie blickte ihn an – sie war so hübsch, so anmutig und zart – und sagte nur: ‹Oh… nein… nein, ich habe es nicht getan!› Etwas Dürftigeres, etwas weniger Überzeugendes, hätte sie gar nicht sagen können.
    Ich sah, wie sich Depleach auf seinem Sitz krümmte und wand – er wusste, dass er verloren hatte.»
    Fogg schwieg einen Augenblick, ehe er weitersprach:
    «Und doch… ich weiß nicht. Irgendwie war es ganz geschickt von ihr. Sie appellierte an die Ritterlichkeit. Die Geschworenen wussten, das ganze Gericht wusste, dass sie keine Chance hatte. Sie konnte nicht einmal für sich kämpfen, sie konnte natürlich nicht gegen so einen gerissenen Kerl wie den alten Humple aufkommen. Dieses schwache, hilflose ‹Oh, nein, ich habe es nicht getan!› war rührend… einfach rührend. Sie war verloren!
    Und doch war es in einer Hinsicht das Beste, was sie hatte tun können. Die Beratung der Geschworenen dauerte nur eine halbe Stunde. Und ihr Urteil lautete: ‹Schuldig, mit Begnadigungsvorschlag.› Sie hatte nämlich im Gegensatz zu der anderen Frau einen guten Eindruck gemacht.
    Dieses Mädchen, diese Elsa Greer! Von vornherein war sie den Geschworenen unsympathisch gewesen. Sie war bildhübsch, aber kaltschnäuzig, hypermodern. Für die Frauen im Saal war sie eines der Mädchen, denen nichts heilig ist, die keine Ehe respektieren – Mädchen mit Sex-Appeal und voller Verachtung für die Rechte der Ehefrauen. Sie war ganz offen, das muss ich sagen, überraschend offen. Sie habe sich in Amyas Crale verliebt, und er sich in sie, und sie habe keine Bedenken gehabt, ihn seiner Frau und seinem Kind fortzunehmen. Irgendwie bewunderte ich sie; sie hatte Mut. Im Kreuzverhör stellte Depleach einige böse Fragen, und sie hielt tapfer stand. Aber den Geschworenen war sie unsympathisch, und auch der Richter mochte sie nicht.
    Es war der alte Avis. In seiner Jugend hat er es selbst toll getrieben – aber er wurde immer höchst moralisch, wenn er in seine Robe schlüpfte. Caroline Crale gegenüber war er die Milde in Person. Die Tatsachen konnte auch er nicht bestreiten, doch er betonte, wie sehr sie gereizt worden sei und so weiter.»
    «Er schloss sich nicht der Selbstmordtheorie der Verteidigung an?», fragte Poirot.
    Fogg schüttelte den Kopf.
    «Die stand auf zu schwachen Füßen. Depleach hatte wirklich sein Bestes getan, er war wunderbar. Er schilderte in der rührendsten Weise, wie der großherzige, lebenshungrige, temperamentvolle Mann von der Leidenschaft zu einem schönen jungen Mädchen überwältigt wurde, wie Gewissensbisse ihn peinigten und wie er dennoch der Versuchung nicht habe widerstehen können. Dann seine Reue, seinen Ekel vor sich selbst, seine Gewissensbisse seiner Frau und seinem Kind gegenüber und sein plötzlicher Entschluss, mit allem ein Ende zu machen. Der ehrenhafte Ausweg! Es war eine äußerst rührende Darstellung. Depleach trieb einem die Tränen in die Augen, und man sah diesen armen, unglücklichen Menschen,
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