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Das unvollendete Bildnis

Das unvollendete Bildnis

Titel: Das unvollendete Bildnis
Autoren: Agatha Christie
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diesem kurzen Moment Elsa zum Tisch lief und die letzten Tropfen Gift in das Glas mit dem Rest unvergifteten Bieres goss. Den Füller warf sie nachher unterwegs fort und zertrat ihn. Sie geht Meredith entgegen. Wenn man aus dem Schatten der Bäume auf die in Sonnenlicht gebadete Schanze kommt, ist man geblendet. Meredith konnte nicht deutlich sehen, er sah seinen Freund Crale in seiner üblichen Stellung auf der Bank liegen, sah, dass Crale böse blickte.
    Wie viel wusste oder vermutete Amyas? Was er bewusst empfand, können wir nicht sagen, aber seine Hand und seine Augen arbeiteten exakt.»
    Hercule Poirot deutete auf das Bild an der Wand.
    «Ich hätte es sofort erkennen müssen, als ich das Bild zum ersten Mal sah, denn es ist ein bemerkenswertes Bild: Es ist das Bild einer Mörderin, die von ihrem Opfer gemalt wird; es ist das Bild einer Frau, die zusieht, wie ihr Geliebter stirbt…»

5
     
    I n dem Schweigen, das folgte, einem entsetzten, lastenden Schweigen, erlosch langsam das Sonnenlicht; die letzten Strahlen schwanden von der Gestalt der Frau, die unbeweglich am Fenster saß.
    Schließlich rührte Elsa Dittisham sich und sagte:
    «Meredith, gehen Sie mit allen hinaus, und lassen Sie mich mit Monsieur Poirot allein.»
    Regungslos blieb sie sitzen, bis sich die Tür hinter den Hinausgehenden schloss. Dann sagte sie:
    «Sie sind sehr klug, Monsieur Poirot.»
    Er schwieg.
    «Was erwarten Sie von mir? Soll ich ein Geständnis ablegen?»
    Er schüttelte den Kopf.
    «Ich denke nämlich nicht daran», fuhr sie fort. «Ich werde nichts zugeben. Was wir jetzt miteinander sprechen, spielt keine Rolle, es stünde nur Aussage gegen Aussage.»
    «Richtig.»
    «Ich möchte wissen, was Sie zu tun beabsichtigen.»
    Poirot antwortete:
    «Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um einen nachträglichen Freispruch für Caroline Crale zu erlangen.»
    «Und was haben Sie mit mir vor?», fragte sie ironisch.
    «Ich werde die Ergebnisse meiner Untersuchung der zuständigen Stelle zukommen lassen. Wenn man glaubt, man könne gegen Sie vorgehen, soll man es tun. Meiner Ansicht nach genügt das Beweismaterial nicht; es sind nur Vermutungen, keine Tatsachen. Außerdem wird man sich nicht danach drängen, gegen eine Persönlichkeit wie Sie zu ermitteln, wenn keine schlagenden Beweise vorhanden sind.»
    «Das wäre mir egal», erwiderte Elsa. «Wenn ich auf der Anklagebank um mein Leben kämpfen müsste, wäre das etwas Aufregendes. Ich könnte es… genießen.»
    «Ihr Mann aber nicht.»
    Sie starrte ihn an.
    «Glauben Sie, dass ich mich auch nur im geringsten darum kümmere, was mein Mann empfinden würde?»
    «Nein. Ich glaube nicht, dass Sie sich je in Ihrem Leben darum gekümmert haben, was Ihre Mitmenschen empfinden könnten. Wenn Sie es getan hätten, wären Sie glücklicher geworden.»
    «Warum bedauern Sie mich?», fragte sie scharf.
    «Weil Sie noch so viel lernen müssen, meine Liebe.»
    «Was soll ich lernen?»
    «Alle Empfindungen erwachsener Menschen: Mitleid, Mitgefühl, Verständnis. Das einzige, was Sie in Ihrem Leben empfunden haben, sind Liebe und Hass.»
    «Ich sah, wie Caroline das Gift nahm», sagte Elsa. «Ich glaubte, sie wolle sich umbringen – das hätte alles vereinfacht. Und dann, am nächsten Morgen, erfuhr ich die Wahrheit. Er sagte ihr, dass er sich nichts mehr aus mir mache, er sei ein bisschen verliebt gewesen, das sei aber nun vorbei. Sowie das Bild fertig sei, würde er mir sagen, ich solle meine Koffer packen. Sie brauche sich keine Sorgen mehr zu machen.
    Und sie – sie empfand Mitleid mit mir. Begreifen Sie, was das für mich bedeutete? Ich fand das Gift, ich schüttete es ihm ins Bier, und ich saß da und sah zu, wie er starb. Ich habe mich noch nie so lebendig gefühlt, so voll Macht, habe noch nie innerlich so gejubelt. Ich sah zu, wie er starb…»
    Sie streckte die Arme aus.
    «Aber ich begriff nicht, dass ich mich tötete, nicht ihn! Nachher sah ich, wie sie in der Falle saß… aber auch das nützte mir nichts. Ich konnte ihr nichts anhaben… ihr war alles gleich… es berührte sie nicht… sie war gar nicht da. Sie und Amyas waren zusammen irgendwohin gegangen, wo ich sie nicht erreichen konnte. Nicht sie sind gestorben, ich bin gestorben.»
    Sie stand auf, wandte sich zur Tür und wiederholte:
    « Ich bin gestorben… »
    In der Halle ging sie an zwei jungen Menschen vorbei, deren gemeinsames Leben gerade begann.
    Ein Chauffeur in Uniform hielt den Wagenschlag auf, Lady
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