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Das unvollendete Bildnis

Das unvollendete Bildnis

Titel: Das unvollendete Bildnis
Autoren: Agatha Christie
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können wir mit unserer Geisterbeschwörung beginnen.»
    «Was ist das für ein Unfug?», rief Philip Blake. «Sie wollen doch nicht etwa eine Seance abhalten?»
    «Nein. Wir wollen nur einige Ereignisse erörtern, die sich vor vielen Jahren abgespielt haben. Was die Geister anbelangt, so werden sie nicht erscheinen, aber wer kann sagen, ob sie nicht hier bei uns sind, obwohl wir sie nicht sehen können? Wer kann sagen, ob nicht Amyas und Caroline Crale hier sind und uns zuhören?»
    «So ein Blödsinn…», stieß Philip Blake hervor.
    In diesem Moment ging die Tür auf, und der Butler meldete Lady Dittisham.
    Sie trat mit der ihr eigenen leicht gelangweilten Arroganz ein, bedachte Meredith mit einem flüchtigen Lächeln, warf Angela und Philip einen kalten Blick zu und setzte sich auf einen Stuhl am Fenster, der etwas abseits von den andern stand. Sie nahm ihren kostbaren Pelz ab, blickte sich einige Sekunden lang im Raum um, dann musterte sie Carla, die ihren Blick ruhig erwiderte. Carla Lemarchant betrachtete nachdenklich die Frau, die das Leben ihrer Eltern zerstört hatte. Aber es war keine Feindschaft in ihrem jungen, ernsten Gesicht, nur Neugierde.
    Schließlich sagte Elsa:
    «Entschuldigen Sie bitte meine Verspätung, Monsieur Poirot.»
    «Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, dass Sie gekommen sind, Madame. Ich möchte Ihnen, meine Herrschaften, nun erklären, warum ich Sie hierhergebeten habe.»
    In kurzen Worten sprach er von Carlas Auftrag und übersah dabei geflissentlich die Empörung, die sich auf Philips Gesicht ausdrückte, und Merediths missbilligende Überraschung.
    «Ich nahm den Auftrag an», fuhr er fort, «und machte mich daran, nach sechzehn Jahren die Wahrheit ans Licht zu bringen.»
    «Wir wissen alle, was geschehen ist», sagte Philip Blake gereizt. «Etwas anderes zu behaupten, ist Schwindel. Sie ziehen diesem Mädchen nur das Geld aus der Tasche.»
    Ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, erwiderte Poirot: «Sie sagen, wir alle wüssten, was geschehen ist. Sie reden, ohne nachzudenken. Es kommt darauf an, wie man Tatsachen auslegt. Zum Beispiel hassten Sie, Mr Blake, Caroline Crale. Das nahm man als gegeben hin. Aber jeder, der nur etwas von Psychologie versteht, muss sofort erkennen, dass gerade das Gegenteil zutraf: Sie waren von Jugend an in Caroline Crale verliebt. Sie ärgerten sich aber darüber und versuchten, über diese Liebe hinwegzukommen, indem Sie sich immer wieder alle Schwächen von Caroline Crale vor Augen hielten. Mr Meredith Blake liebte Caroline Crale ebenfalls seit vielen Jahren. In seinem Bericht über die Tragödie schreibt er, dass er Amyas Crale sein Verhalten ihretwegen verübelte, aber man braucht nur zwischen den Zeilen zu lesen, um festzustellen, dass diese lebenslängliche Ergebenheit sich in Liebe für die junge schöne Elsa Greer verwandelt hatte, die alle Gedanken und Sinne in Anspruch nahm.»
    Meredith stieß einen unartikulierten Laut aus, und Lady Dittisham lächelte.
    «Ich erwähne diese Punkte nur als Beispiele, um zu zeigen, wie wichtig sie für die Ergründung der Wahrheit sein können.
    Im Laufe meiner Nachforschungen habe ich folgende interessante Tatsache festgestellt: Caroline Crale hat niemals ihre Unschuld beteuert – außer in dem Brief an ihre Tochter. Caroline Crale hat auf der Anklagebank keine Furcht gezeigt, sie hat sehr wenig Interesse für die Verhandlung bewiesen, sie hat sich kaum gegen die Anklage gewehrt. Im Gefängnis war sie ruhig, ja heiter. In einem Brief, den sie gleich nach ihrer Verurteilung ihrer Schwester schrieb, erklärte sie sich mit ihrem Schicksal einverstanden. Und alle, mit denen ich sprach – mit einer Ausnahme –, hielten Caroline Crale für schuldig.»
    Philip Blake nickte heftig.
    «Natürlich war sie schuldig!»
    Ohne den Einwurf zu beachten, fuhr Poirot fort:
    «Ich durfte aber das Urteil anderer nicht so einfach hinnehmen; meine Aufgabe war, mich selbst vom Tatbestand zu überzeugen. Und ich habe mich überzeugt. Zweifellos hatte Caroline Crale gute Gründe, das Verbrechen zu begehen. Sie liebte ihren Mann, aber er hatte vor Zeugen zugegeben, dass er sie um einer anderen Frau willen verlassen wolle, und sie selbst gab zu, dass sie sehr eifersüchtig war. Zu diesen Motiven kommt die Tatsache, dass in ihrer Schlafzimmerkommode ein leeres Parfümfläschchen mit Giftspuren gefunden wurde, auf dem nur ihre Fingerabdrücke waren. Sie gestand der Polizei, dass sie das Gift aus diesem Raum hier genommen habe,
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