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Vor dem Sommer

Vor dem Sommer

Titel: Vor dem Sommer
Autoren: Maggie Stiefvater
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    Ich erinnere mich, wie ich im Schnee lag, ein kleines, warmes Bündel, das langsam kälter wurde, und die Wölfe leckten an mir. Oder fraßen mich, ich konnte es nicht sagen. Ich wusste nur, dass das Gewirr ihrer Leiber – in ihren Pelzen glitzerte Eis – auch noch das winzige bisschen Wärme von mir abhielt, das die Sonne verströmte. Ich versank in einem eisigen Meer und wurde wiedergeboren in eine warme Welt.
    Ich sah ihn wieder – den Wolf, der mich mit der Schnauze angestupst hatte, erst in die Hand, dann an die Wange, anstatt mir mit gieriger Zunge die letzte Wärme zu stehlen. Er stand am Waldrand am anderen Ende unseres Gartens. In der Dämmerung, wenn ich zu lange draußen auf meiner Reifenschaukel blieb, spürte ich seinen Blick, doch wenn ich mich umdrehte, sah ich ihn nur noch im Unterholz verschwinden.
    Angst hatte ich nie vor ihm. Er war noch jung, trotzdem wäre er groß genug gewesen, um mich von der Schaukel zu reißen, wenn er gewollt hätte. Vor der älteren Wölfin, die ihn oft begleitete, fürchtete ich mich jedoch. Noch scheuer als er, beobachtete sie mich, oder besser gesagt: Sie beobachtete ihn dabei, wie er mich beobachtete. Ich sah den Hunger in ihren blassgelben Augen.
    Während mein Körper sich in den eines Teenagers zu verwandeln begann, Ecken und Kanten zu Kurven wurden und ich die Reifenschaukel immer häufiger als ruhiges Plätzchen zum Lesen nutzte statt zum Schaukeln, reifte auch er zu einem ausgewachsenen Wolf heran. Das unregelmäßige Fell eines Jungtiers wich einem wunderschönen, weich aussehenden Pelz. Seine Augenfarbe änderte sich von Babyblau zu einem bräunlichen Gelb und die Neugier darin wich Misstrauen. Doch noch immer hatte ich keine Angst.
    Ich war fasziniert von ihm und ihm schien es mit mir ebenso zu gehen. Es war wie ein Flirt, beinahe, doch ich wusste, dass Wölfe sich Partner fürs Leben suchten und diese hungrige Wölfin höchstwahrscheinlich seine Gefährtin war. Doch ich war jung und naiv. Ich malte mir große Abenteuer aus, in denen ich nachts zu einem Wolf wurde und mit ihm durch einen goldenen Wald preschte, in dem es niemals schneite.
    Eines orangebraunen Abends, als ich unter dem Baum mit der Reifenschaukel saß und ein Buch über König Artus las, spürte ich plötzlich eine Schnauze an meiner Hand, dann an meiner Wange. Ich rührte keinen Muskel, um ihn nicht zu erschrecken, doch es half nichts. Bevor ich auch nur den Blick in seine Richtung wenden konnte, war er schon wieder verschwunden.
    Der nächste Wolf, den ich zu Gesicht bekam, war sie, die mich vom Waldrand her anknurrte.
    Wochen vergingen zwischen seinen Besuchen und ich fühlte seine Abwesenheit genauso stark wie seine Gegenwart. Und bald schon waren er und die Wölfin nicht mehr die einzigen, die mich an meinen Leseabenden beobachteten. Ein massiger Rüde, dessen Schnauze zu ergrauen begann, stapfte geheimnisvolle Pfade im Schutz der Bäume, ohne mich aus den Augen zu lassen. Dann verschwand er, lautlos trotz seiner Größe, genau wie mein Wolf.
    Außerdem zeigte sich nun auch ein mageres, geschecktes Tier, jedoch nur aus der Ferne. Ich war froh, dass es nicht näher kam, wenn ich seinen fleckigen Pelz im Sonnenlicht aufblitzen sah, das durch die Baumkronen drang. Alles an ihm – sein stumpfes, strähniges Fell, die Kerbe in seinem Ohr, das brandig tränende Auge – deutete auf einen kranken Körper hin und in den wild rollenden Augen schien bisweilen auch ein kranker Geist aufzublitzen.
    Und dann, eines Abends kurz vor den Weihnachtsferien, erschien die Wölfin zwischen den kahlen Baumgerippen, die ihr keinerlei Möglichkeit zum Verstecken boten. Ich beobachtete sie, sicher hinter der Scheibe des Wohnzimmerfensters, als plötzlich ein weiterer Wolf neben ihr auftauchte. Es war nicht mein Wolf; seine Schultern waren breiter und sein Pelz beinahe schwarz. Er drückte seine Schnauze an ihre, die liebevolle Berührung eines Gefährten, während die treulose Wölfin weiter zum Haus hinübersah, bevor sie die Geste erwiderte.
    Weihnachten riss mich fort von den Wölfen im Wald, doch keine Geschenke, kein leckeres Essen, nicht mal die liebevollen Umarmungen meiner Großmutter vermochten die Wölfe aus meinem Kopf zu vertreiben.
    Ich sah ihn nicht wieder, bis es zum vierten Mal in diesem Winter schneite. Zögernd stapfte er durch die weiße, pulvrige Schicht auf mich und meinen halbfertigen Schneemann zu.
    »Na, Wolf, hast du Hunger?« Er sah zumindest so aus; man konnte seine Rippen
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