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Das unvollendete Bildnis

Das unvollendete Bildnis

Titel: Das unvollendete Bildnis
Autoren: Agatha Christie
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aus dem Finger gezogen werden musste, verschwieg sie mir vorher nie, dass es wehtun würde. Wahrheit war ihre zweite Natur. Ich glaube, ich war kein besonders zärtliches Kind, aber ich habe ihr vertraut, und ich vertraue ihr noch heute. Wenn sie sagt, dass sie meinen Vater nicht getötet hat, dann hat sie ihn nicht getötet. Sie war nicht der Mensch, der angesichts des Todes feierlich eine Lüge niederschreibt.»
    Langsam, fast widerstrebend, nickte Poirot.
    Carla fuhr fort: «Darum kann ich von mir aus John heiraten. Ich weiß, dass sie die Wahrheit sagte, er aber nicht, er findet es nur normal, dass ich meine Mutter für unschuldig halte. Es muss also bewiesen werden, Monsieur Poirot, und deshalb bin ich zu Ihnen gekommen.»
    Langsam erwiderte Poirot: «Angenommen, dass das, was Sie sagen, stimmt, Mademoiselle, so darf man nicht vergessen, dass inzwischen sechzehn Jahre vergangen sind.»
    «Ich weiß, dass es sehr schwer sein wird, aber Sie sind der Einzige, dem es gelingen kann. Ich habe schon so viel von Ihnen gehört. Sie interessiert doch hauptsächlich die psychologische Seite eines Falles, und daran ändert die Zeit nichts. Die sichtbaren Dinge sind nicht mehr vorhanden… die Zigarettenstummel, die Fußspuren, das niedergetretene Gras. Aber die Tatsachen des Falles können Sie untersuchen. Sie können mit den Leuten sprechen, die damals dabei waren. Alle leben noch – und dann… dann können Sie, wie Sie vorhin sagten, sich in Ihrem Sessel zurücklehnen und denken. Und Sie werden wissen, was wirklich geschehen ist… »
    Poirot stand auf, strich liebevoll über seinen Schnurrbart und sagte:
    «Mademoiselle, ich fühle mich geehrt. Ich werde Ihr Vertrauen rechtfertigen; ich werde diesen Mord untersuchen. Ich werde mich in diese Ereignisse, die sechzehn Jahre zurückliegen, vertiefen und werde die Wahrheit herausfinden.»
    Auch Carla war aufgestanden; ihre Augen leuchteten, doch sagte sie nur:
    «Gut.»
    Poirot hob warnend den Zeigefinger.
    «Einen Augenblick. Ich habe gesagt, ich werde die Wahrheit herausfinden, aber ich bin nicht voreingenommen. Ich nehme Ihre Behauptung, dass Ihre Mutter unschuldig sei, nicht als gegeben hin. Und wenn sie nun schuldig war… eh bien, was dann?»
    Carla reckte stolz den Kopf.
    «Ich bin die Tochter meiner Mutter! Ich will die Wahrheit wissen.»
    «Dann en avant. Das heißt, das sollte ich eigentlich nicht sagen, sondern im Gegenteil: en arrière… »

Erstes Buch

1
     
    « O b ich mich an den Crale-Fall erinnere?», fragte Sir Montague Depleach.
    «Natürlich erinnere ich mich. Ganz genau sogar. Eine schöne Frau, aber völlig aus dem Gleichgewicht, sehr unbeherrscht.»
    Er blickte Poirot von der Seite an.
    «Aber warum fragen Sie danach?»
    «Es interessiert mich.»
    «Lieber Freund, es ist eigentlich nicht sehr taktvoll von Ihnen, mich darüber zu befragen», sagte Depleach. «Der Fall zählt nicht zu meinen Erfolgen; ich habe sie nicht freibekommen.»
    «Das weiß ich.»
    Achselzuckend fuhr Sir Montague fort: «Ich hatte natürlich noch nicht die Erfahrung, die ich heute besitze; ich habe zwar damals schon alles Menschenmögliche getan, doch wenn der Angeklagte nicht mithilft, kann man wenig machen. Immerhin haben wir erreicht, dass die Todesstrafe aufgrund von mildernden Umständen in lebenslänglich Zuchthaus umgewandelt wurde. Viele solide Ehefrauen und Mütter hatten Petitionen eingereicht… Sie genoss große Sympathien.»
    Er lehnte sich zurück und streckte seine langen Beine aus.
    «Wenn sie ihn erschossen hätte oder erstochen, verstehen Sie, hätte ich auf Totschlag plädieren können, aber Gift… da war all meine Kunst vergebens.»
    «Auf was baute sich die Verteidigung auf?», fragte Poirot, obwohl er es wusste, da er inzwischen die Zeitungsberichte von damals studiert hatte; doch er hielt es für richtiger, sich Sir Montague gegenüber unwissend zu stellen.
    «Selbstmord natürlich, das war das einzig mögliche – wenn auch ziemlich unwahrscheinlich. Crale war nicht der Mann dazu. Sie kannten ihn wohl nicht persönlich? Er war ein Mordskerl, übersprudelnd vor Lebensfreude; er liebte die Frauen, trank gern Bier und all das. Er schätzte alle Freuden des Fleisches und hat sie ausgiebig genossen. Man kann Geschworenen nicht einreden, dass ein solcher Mann sich hinsetzt und Gift nimmt; das passte einfach nicht zu ihm. So stand ich von Anfang an auf verlorenem Posten, und das wusste ich.
    Und sie hat mir nicht ein bisschen geholfen!
    Sowie sie auf der
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