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Das unsichtbare Volk

Das unsichtbare Volk

Titel: Das unsichtbare Volk
Autoren: Diethelm Kaminski
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Wohnung war angesagt.
    Nun hausen wir
in einer engen muffigen Dachwohnung mit schrägen Wänden und schimmelnden
Tapeten an einer vom Durchgangsverkehr umtosten Ausfallstraße.
    Vierundzwanzig
Stunden Lärm. Die Fenster vibrieren, die Wände beben. Von Doppelverglasung und
Lärmschutz haben die Menschen hier noch nichts gehört. Und dann noch die lauten
Mitbewohner, die saufen, streiten oder sich gelegentlich sogar prügeln. Denen
gehen wir aus dem Wege. Bevor wir uns im schummerigen Treppenhaus die
ausgetretenen Stiegen hinunter schleichen, vergewissern wir uns, dass keiner
der Mitbewohner auf dem Flur ist. Wir möchten niemandem begegnen. Meine Töchter
begleite ich, wenn möglich, bis vor die Haustür, oder schärfe ihnen jeden Tag
aufs Neue ein, nie allein das Haus zu betreten oder zu verlassen. Angst und
Misstrauen sitzen tief. Seit wir uns hier einquartiert haben und dabei noch
froh sein müssen, dass wir ein so billiges Obdach gefunden haben, ist es aus
mit der Nachtruhe. Der Straßenlärm, die grölenden, keifenden Mitbewohner, die
dünnen Wände lassen einen ruhigen Schlaf nicht zu. Den Mädchen geht es nicht
viel besser als mir. Morgens sind sie meistens unausgeschlafen und schlecht
gelaunt. Wir fühlen uns wie gerädert. Unsere Nerven liegen blank. Wir fangen
an, uns anzuschreien. Über Nacht haben sie zu allem Überfluss auf dem ohnehin
viel zu schmalen Bürgersteig riesige mit Sand gefüllte Kunststofftaschen direkt
vor der Haustür abgeladen. Was das wohl werden soll? Sand für einen
Kinderspielplatz? Hier spielen Kinder, wenn überhaupt, auf betonierten
Parkplätzen oder in baumlosen Hinterhöfen. Eine Ausbesserung der unzähligen
Löcher im Bürgersteig? Auch das ist wenig wahrscheinlich. In dieser Gegend wird
nichts ausgebessert. Und kein einziger Straßenarbeiter ist hier in den letzten
vierzehn Tagen aufgetaucht. Dafür ein neuer Mieter. Ganz unten im Parterre.
Nicht dass er sich uns vorgestellt hätte, aber meine Töchter haben ihn mehrere
Male flüchtig im Treppenhaus gesehen.
    „Ein kauziges
Männchen“, sagen sie, „viel kleiner als wir, alt, sehr alt, aber flink, sehr
flink, wie eine Kakerlake huscht das Männchen durchs Treppenhaus. Es hat einen
langen weißen Bart und einen Buckel, und es kichert ständig vor sich hin.“
    „Hat der Mann
euch angesprochen?“, frage ich.
    „Hat er euch
gegrüßt?“
    „Nein, nur
angestarrt hat er uns mit seinen kleinen roten Augen, richtig unheimlich. Und
gekichert hat er, und dann ist er ganz schnell in seiner Wohnung verschwunden.“
    Mit dem Einzug
des neuen Mieters schlafen wir tief und traumlos, stehen morgens frisch und gut
gelaunt auf. Unsere Schlafprobleme sind wie weggewischt und stellen sich auch
in den nächsten Tagen und Wochen nicht wieder ein. Ob wir uns allmählich an den
Höllenlärm draußen und drinnen gewöhnt haben? Mit dem wieder gefundenen Schlaf
gewinne ich meinen alten Lebensmut zurück. Ich will, muss, werde Arbeit finden.
Die Mädchen gehen, ohne zu murren, in die Schule, ihre Noten verbessern sich
zusehends.
    An einem
Vormittag taste ich mich durch das dämmerige Treppenhaus nach unten, um Brot
beim Bäcker zu kaufen. Die Haustür steht sperrangelweit offen, sodass ich das
Schild an der Tür des neuen Mieters lesen kann. Ein weißer mit Tesafilm befestigter
Papierstreifen, auf dem in altdeutscher Schrift ein Name steht, den ich mit
Mühe entziffere:
    S a n d m a n
n .
    Ich
lege ein Ohr an die Tür und meine ein leises Kichern zu vernehmen.

Entweder – oder
     
     
     
    Auf dem morgendlichen Schulweg
gesellte sich plötzlich eine wunderlich aussehende auffällig kleine Frau neben
den hoch aufgeschossenen Sven und versuchte mit ihm Schritt zu halten. Eine
Bettlerin, dachte Sven, die scharf auf mein Frühstücksbrot oder mein
Taschengeld ist. Die Frau trug einen blauen Umhang, auf den goldene Sterne in
verschiedenen Größen gestickt waren, und einen spitzen blauen Hut. Verrückt,
aber warum nicht, dachte Sven, Mut hat sie, sich so schräg zu kleiden. In der
Hand hielt sie einen Stock, nein eher einen Stab, der aussah wie der Taktstock
von Chorleiter Neuberger.
    „Kannst du
nicht etwas langsamer gehen?“, fragte die Frau. „Ich habe nicht so lange Beine
wie du. Ich möchte dir doch helfen.“
    „Mir helfen?
Wobei? Warum? Sie kennen mich doch gar nicht.“
    „Ich kenne
dich besser als du dich selbst. Ich beobachte dich schon eine ganze Weile, und
ich weiß, was dich bekümmert, und wie sehr du leidest. Deine
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