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Das unsichtbare Volk

Das unsichtbare Volk

Titel: Das unsichtbare Volk
Autoren: Diethelm Kaminski
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geheilt und du behältst deine Glatze.“
    Sven schaute
auf die fürchterlich entstellten Gesichter seiner Klassenkameraden und Mitleid
überkam ihn. „Ach“, sagte er, „so schlimm ist eine Glatze gar nicht, irgendwie
praktisch, ich brauche mich nicht mehr zu kämmen. Außerdem kann ich ja eine
Pudelmütze tragen. Jeden Tag diese haarigen pickeligen Gesichter anzusehen, ist
noch viel schlimmer. Immerhin sind es noch fast vier Jahre bis zum Abitur, die
ich mit ihnen aushalten muss.“
    Geradezu
stoisch ertrug Sven die gehässigen Bemerkungen zu seiner Kahlköpfigkeit.
    „Ich finde
meine Frisur super“, sagte er. „Wem sie nicht gefällt, muss ja nicht hinsehen.“

Das unsichtbare Volk
     
     
     
    Kennt ihr das Volk der Letterer? Ihr
könnt es nicht kennen. Es hat sich zwar im Laufe seiner langen Geschichte über
die ganze Welt ausgebreitet, und seine Bevölkerung dürfte viele Millionen
betragen, aber seine Menschen sind so winzig, man könnte fast sagen: unsichtbar.
Nur unter einem sehr guten Elektronenmikroskop kann man sie erkennen und ihr
emsiges Treiben beobachten.
    Die Letterer
leben zwischen den Buchstaben von Büchern. Buchstaben sind ihre Wohnungen und
die Zwischenräume zwischen den Buchstaben ihre Wege, Straßen Gärten und Parks.
Das Buch ist ihre Stadt und die Seite eines Buches ihr Wohnviertel. Letterer
sind sehr mobil. Sie liegen nicht auf der faulen Haut, sondern eilen
fortwährend von Wohnviertel zu Wohnviertel, von Stadt zu Stadt, um sich mit
ihren Mitbewohnern geistig auszutauschen. Die Letterer sind weder Landwirte
noch Handwerker. Wozu auch? Sie benötigen nur geistige Nahrung, und die finden
sie in ihrer Wohnumgebung wie in einem Schlaraffenland, und wenn nicht, ziehen
sie weiter. Welche Sprache sie sprechen? Welche Frage! Sie verstehen und
sprechen alle auf der Welt vorkommenden Sprachen, aber untereinander nur
Esperanto, damit es zu keinen Missverständnissen und Übersetzungsfehlern kommt.
    Die
Vorgeschichte der Letterer liegt im Dunkeln. Die wahrscheinlichste Erklärung
für ihre Winzigkeit und ungewöhnliche Lebensweise ist, dass sie sich, um vor
Verfolgung sicher zu sein und ihre Gedanken frei äußern zu können, für immer
vor der restlichen Welt versteckten. ‚Weltflucht‘ könnte man es nennen, aber
nein, der Ausdruck wird den Letterern nicht gerecht. Dazu sind sie viel zu
kritisch und kreativ. Sie mischen sich ununterbrochen in die Gedanken von
Lesern ein. Unselbstkritisch, wie die meisten Leser nun einmal sind, wähnen
sie, es seien ihre eigenen Gedanken und Vorstellungen, und ahnen nicht, dass es
die Letterer sind, die ihre Überlegungen beeinflussen. „Zwischen den Zeilen
lesen“ heißt es leichthin. In Wahrheit bedeutet es, den Letterern begegnet zu
sein, ihre kritischen Fragen, ihre Ansichten, ihre klugen Einfälle gedankenlos
übernommen zu haben. Wenn es im Zusammenhang mit den Letterern eines
Existenzbeweises bedarf, dann ist es diese ständige geistige Begleitung der
Leser. Die Letterer halten unseren Geist auf Trab, sie versuchen, ihn positiv
zu beeinflussen, böse Gedanken zu verdrängen und gute zu verstärken. Den Lohn
ernten nicht sie , sondern andere. Unverdientermaßen. Aber den Letterern
geht es nicht um Ruhm und Anerkennung. Den Letterern geht es allein um den Sieg
des Geistes. Ob sie jemals wieder auftauchen, um als Menschen von normalem
Wuchs unter uns zu leben? Eher nicht. Sie wissen, sie würden wieder nur
verfolgt, eingesperrt und womöglich erschlagen werden. Geistig erfolgreich
wirken, dessen sind sie sich sicher, können sie nur im Untergrund.
    Neuerdings
droht ihnen eine Gefahr, die sie nicht vorhersehen konnten: E-Books. Bis jetzt
ist es den klügsten Köpfen der Letterer nicht gelungen, in E-Books
einzudringen, um sich dort dauerhaft anzusiedeln. Mit der Verbreitung von
E-Books und dem Rückgang gedruckter Bücher sind die Letterer vom Aussterben
bedroht. Doch ich bin zuversichtlich. Ihre hohe Intelligenz wird Mittel und
Wege finden, um auch die E-Books für sich bewohnbar zu machen.
    Ich wünsche es
ihnen, denn was wären wir „normalen“ Menschen ohne die Letterer?

Amaschwa
     
     
     
    Die Amazonenfrauen entdeckten auf
ihren Streifzügen eine fremde Frau am Ufer des Vulkansees. Halb verhungert und
halb erfroren, der hagere Körper, Kopf und Haare von einer dicken Kruste
schwarzer Asche bedeckt. „Amaschwa, schwarze Amazone“, rief eine der
Kriegerinnen spöttisch aus, und bei diesem Namen blieb es, obwohl die
Unbekannte schon nach dem
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