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Das Unkrautland | Auf den Spuren der Nebelfee

Das Unkrautland | Auf den Spuren der Nebelfee

Titel: Das Unkrautland | Auf den Spuren der Nebelfee
Autoren: Stefan Seitz
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oben war es gemütlich. Im Boden befand sich eine Luke, durch die man über eine Leiter zur Küche hinabsteigen konnte. Der Dachboden erstreckte sich jedoch nicht über die ganze Fläche des Hauses, sondern nur bis zur Hälfte. Dort war er mit einem Geländer abgetrennt und bot einen luftigen Blick in das herrschaftliche Kaminzimmer.
    Der Mond schien zu den Fenstern herein und tauchte den Raum in ein milchiges bläuliches Licht. Direkt neben dem Bett flackerte eine Kerze. Diese warf ihren Schein auf eine seltsame schwarze Gestalt, die mit ratlos ausgestreckten Armen danebenstand. Die Gestalt war mittelgroß und überaus dünn. Sie trug einen altmodischen Frack, weiße Gamaschen über den Schuhen und – genau, wie die Leute aus den Dörfern erzählten – einen hohen, zerknautschten Zylinderhut auf dem Kopf.
    Den schwarzen Schatten gab es also wirklich, wenngleich er aus Fleisch und Blut war. Unschlüssig stand er vor einer rustikalen Pendeluhr und blickte zum Ziffernblatt. Es schien, als würde er sich mit der Uhr unterhalten, da er eindringlich und lautstark auf sie einredete:
    »Nein, ich habe kein Werkzeug«, bemerkte er und zuckte mit den Schultern.
    »Das kann doch nicht sein«, kam es dumpf hinter einer Klappe am Uhrenkasten hervor. »Hast du schon in der Kiste nachgesehen? Da liegt doch bestimmt eine Zange drin, oder etwa nicht?!«
    Der Schatten sah zur Seite, wobei man deutlich seine spitze Nase erkennen konnte. Er blickte nachdenklich auf eine Truhe, die neben dem Bett in der Ecke stand. Dann wandte er sich wieder der Klappe am Uhrenkasten zu.
    »Da ist keine Zange drin, das weiß ich genau. Ich brauche gar nicht erst nachzusehen.« Er winkte ab und wippte nachdenklich mit dem Fuß.
    »Du hör mal, Primus«, hallte es aus der Uhr. »Ich habe jetzt schon neun Minuten und siebenundzwanzig Sekunden Verspätung. Das bringt mir noch den ganzen Tagesplan durcheinander. Eine Blamage ist das. So etwas ist mir in den letzten hundert Jahren nicht passiert.«
    Der Schatten, der offensichtlich Primus hieß, drehte sich um und schob den Zylinder zurück. Ein scharf geschnittenes Gesicht kam zum Vorschein, mit hohen Wangen und tief liegenden Augen. Die schwarzen Haare waren streng gescheitelt und klemmten hinter den Ohren. Er kratzte sich kurz mit dem Finger an der Stirn und setzte den Hut wieder auf. Dann stellte er sich auf die Zehenspitzen. Neugierig drückte er sich gegen den Uhrenkasten und lugte durch einen Schlitz bei der Klappe ins Innere.
    »Huhu!«
    »Pah«, tönte es in einem schmollenden Tonfall aus dem Kasten.
    »Also gut, Bucklewhee«, sagte Primus, »ich weiß schon, wie wir das anstellen. Halte dich jetzt gut fest. Es könnte vielleicht ein bisschen schwanken.«
    Mit diesen Worten packte er die Standuhr und fing an sie umzukippen. Die Gewichte dröhnten in der Uhr, als sich diese nach vorne neigte.
    »DAS NENNST DU EIN WENIG SCHWANKEN?!!!«, kreischte die Stimme aus dem Inneren. »Ich möchte wissen, was du sagen würdest, wenn das jemand mit deinem Haus machen würde.«
    Primus, der genug damit zu tun hatte, die schwere Standuhr zu stützen, verdrehte die Augen. Dann fuhr er mit dem Fingernagel in den schmalen Schlitz, um die Klappe aufzuziehen.
    »Jetzt pass gut auf«, rief er. »Du drückst mit aller Kraft gegen das Türchen, während ich …« Doch weiter kam er nicht. Primus blieben die Worte im Halse stecken, als schlagartig die kleine Klappe aufging.
    Er schnappte nach Luft. Schnell zog er den Kopf ein und ging in die Knie. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte vor Schreck die Uhr fallen gelassen. Denn schon im nächsten Moment kam ein metallenes Scherengitter aus dem Uhrenkasten geschossen, das sich quietschend über seinen Kopf hinwegbog. Eine Vogelstange klemmte an dessen Ende, worauf ein schmächtiges Hühnergerippe mit einem Hahnenkamm saß. Dem Gockel stand vor Schreck der Schnabel offen. Gackernd ruderte er mit seinen Flügelknochen, während das Scherengitter geradewegs mit ihm in Richtung Bettpfosten sauste. Primus biss die Zähne zusammen. Er stemmte sich gegen die Uhr und wuchtete sie mit aller Kraft wieder gegen die Wand. Krachend und donnernd landete sie auf ihrem Platz, während der Dachboden unter einer Staubwolke erzitterte.
    Just in diesem Moment klappte das Scherengitter wieder ein. Wie der Blitz schnellte es zurück und sauste in den Uhrenkasten. Der kleine Vogel wusste überhaupt nicht, wie ihm geschah. Ruckartig wurde er nach hinten mitgerissen. Eigentlich hätte er die
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