Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Unkrautland | Auf den Spuren der Nebelfee

Das Unkrautland | Auf den Spuren der Nebelfee

Titel: Das Unkrautland | Auf den Spuren der Nebelfee
Autoren: Stefan Seitz
Vom Netzwerk:
Stange, auf der er saß, bloß loslassen müssen, aber in seiner Aufregung hielt er sich ausgerechnet an dieser fest. Er wedelte mit den Flügelknochen, setzte zu einem lauten Hahnenschrei an und polterte mit Schwung in seine Behausung. Einen Augenblick war es still.
    Dann kam ein mitleiderregendes Stöhnen aus der kleinen Öffnung, deren Klappe nun glücklicherweise offen geblieben war. Primus lehnte an der Uhr. Erschöpft ließ er die Arme hängen und atmete durch.
    Dann hob er den Kopf und blickte zum Uhrenkasten hinauf. »He«, rief er, »lebst du noch?«
    Es dauerte ein wenig, bis ein Glucksen ertönte, das sich fast wie ein verzweifeltes Lachen anhörte. Primus nahm den Hut ab, warf ihn über einen der Bettpfosten und ließ sich auf die Matratze fallen.
    Zumindest eine Sache war nun bewiesen: Der Turm war definitiv nicht unbewohnt.
    Primus lebte schon, so lange er sich entsinnen konnte, in diesem alten Turm. Er schlich durch die Räume, stöberte in allen nur erdenklichen Winkeln und vergrub seine Nase in jeglichem Buch, das ihm dabei zwischen die Finger kam. Wie lange das bereits so ging, daran konnte er sich nicht erinnern. Aber ehrlich gesagt, er dachte auch nicht weiter darüber nach. Primus konnte seit jeher tun und lassen, was er wollte, und wurde von niemandem dabei gestört. Warum sollte er sich also den Kopf zerbrechen?
    Wie alt Primus war, das ließ sich nur schwer einschätzen. Seine Gesichtszüge wirkten bemerkenswert jung, ja beinahe jugendlich. Hingegen die bleiche Haut und die tief liegenden Augen ließen wiederum auf ein viel, viel höheres Alter schließen. Und noch etwas deutete darauf hin, dass Primus älter war, als er aussah: Die ersten Berichte über den geheimnisvollen dunklen Schatten waren bereits vor mehr als zweihundert Jahren aufgetaucht.
    Nun gähnte er und rekelte sich genüsslich auf dem Bett. »Bucklewhee«, rief er grinsend, »wie steht es denn jetzt mit deiner Verspätung?«
    »Ach du meine Güte«, kam es aus der Uhr, »das hätte ich ja beinahe vergessen.«
    Ein Räuspern ertönte und schon sauste das Scherengitter heraus. An seinem Ende saß Sir Bucklewhee auf der Stange und nahm Haltung an. Man hätte auch sagen können, das kleine Gerippe thronte darauf. Sir Bucklewhee war ein intellektueller, pünktlicher und in allen Maßen korrekter Präzisionsweckvogel … staatlich geprüft, wohlgemerkt. Darauf legte er allergrößten Wert.
    Mit erhobenem Schnabel, kerzengerader Haltung und respektvollem Blick setzte er zu einem ordnungsgemäßen Mitternachtsweckruf an, der sich hören lassen konnte:
    »KICKERIKIIIIIIIIIII!!!«
    Perfekt ausgeführt folgte ein weiterer Hahnenschrei und noch einer und wieder einer. Bucklewhee war ja schon immer der Meinung gewesen, dass er viel zu talentiert für diese wurmstichige Uhr sei, und behauptete ständig, nur durch eine Fehllieferung in diesen krummen Turm geraten zu sein. Tagsüber und in genau eingehaltenen Trainingszeiten übte er seine Weckbewegungen immer wieder vor der spiegelnden Fensterscheibe und hielt sich in Form. Da er keine Federn mehr besaß, musste er schließlich jeden Knochen einzeln trainieren. Bucklewhee nannte es Flugübungen und hasste es, dabei gestört zu werden.
    Nach dem zwölften Hahnenschrei fuhr er voller Stolz zurück in seinen Kasten. Die Klappe ging zu.
    Wartend schaute Primus zur Uhr. Es dauerte nicht lange, bis die Klappe wieder aufging und Bucklewhee vorwurfsvoll seinen Kopf herausstreckte.
    »Ich hatte beinahe eine Viertelstunde Verspätung«, grummelte er. »Nicht zu fassen. Schlimmer könnte ein Sonntag gar nicht anfangen.« Er spitzte den Schnabel und reckte seinen Kopf. »Ich möchte nur kurz darauf hinweisen, dass ich in meiner gesamten Zeit als staatlich geprüfter Präzisionsweckvogel …«
    Primus horchte auf. »Moment mal«, unterbrach er ihn mit strahlender Miene, »soll das etwa heißen, dass wir heute schon wieder Sonntag haben?«
    Welch Ignoranz! Bucklewhee war sichtlich erschüttert von so viel Unwissenheit. »Um präzise zu sein, seit fünfzehn Minuten und zweiundfünfzig Sekunden«, sagte er.
    »Na, das ist ja wunderbar.« Primus sprang aus dem Bett. Er sauste zum Dachfenster, wo er schnüffelnd seine Nase ins Freie hielt. Dann schnippte er mit dem Finger. »Kirschtorte!«, jubelte er. »Da bin ich mir diesmal ganz sicher.« Ohne Zeit zu verlieren, schnappte er sich seinen Zylinder und eilte durchs Zimmer. »Was soll ich dir mitbringen?«, rief er Bucklewhee zu.
    Der Gockel kam
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher