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Das unheimliche Haus

Das unheimliche Haus

Titel: Das unheimliche Haus
Autoren: Alfred Weidenmann
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verschwinden und war wieder eifrig am Aufpassen und Beobachten. Seit geraumer Zeit hatte er diesen neuen Tick: Er war ganz plötzlich versessen darauf, alles zu fotografieren, was irgendwie mit den Glorreichen Sieben zusammenhing. Die anderen fanden das ziemlich lästig. Aber hinterher mußten sie doch zugeben, daß seine Schnappschüsse regelrechte Bildergeschichten ergaben. »Historische Dokumente«, nannte Karlchen sie schlicht und bescheiden. Es schlug eben doch immer deutlicher bei ihm durch, daß sein Vater bei den Bad Rittershuder Nachrichten Chefredakteur war.
    »Alles in bester Butter«, flüsterte Paul Nachtigall nach einer Weile. Er klappte die Motorhaube des zypressengrünen VW-Golf zu und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.
    »Bist du sicher, daß er nicht mehr anspringt?« fragte Karlchen.
    »Hundertprozentig«, versicherte der Boß. »Los, kratzen wir die Kurve...«
    Knappe drei Minuten später standen die beiden wieder vor den Türen ihrer Klassenzimmer. Sie warteten eine Weile, pumpten tief nach Luft und beruhigten ihren Atem. Nachdem ihnen das einigermaßen gelungen war, traten sie fast gleichzeitig ein. Karlchen Kubatz in die 9 b im zweiten Stock, Paul Nachtigall in die 10 c eine Etage höher.
    Studienrat Fink bemerkte die Rückkehr seines Schülers überhaupt nicht. Er hatte inzwischen die Weser verlassen und schlug sich gerade mit den bundesdeutschen Kanälen herum.
    Und Studienrat Dr. Purzer ließ nach wie vor seine Blicke auf dem Kastanienbaumgipfel ruhen. Als sich Karlchen wieder auf seinen Platz setzte, war der kleine Junge nur eine Art Schatten ganz am Rande seines Gesichtsfeldes.
    Endlich schrillte die Glocke.
    »Das war’s also«, verkündete Studienrat Dr. Purzer, rückte seine Krawatte zurecht und schlüpfte wieder in sein Jackett. »Die Würfel sind gefallen.« Er wartete, bis alle Augen auf ihn gerichtet waren. »Erst wenn jeder Schüler sein Heft vor mir auf den Tisch gelegt hat, darf das Zimmer verlassen werden.«
    Auf dem Korridor waren bereits die Stimmen und Schritte der anderen Klassen zu hören.

Die halbierte Ansichtskarte

    Fast zur selben Zeit, als in Bad Rittershude die Schüler des Prinz-Ludwig-Gymnasiums nach Schulschluß die Korridore überfluteten und sich dann durch die Portale auf die Straße drängelten, machte ein paar hundert Kilometer weiter nördlich im Berliner Stadtteil Charlottenburg Hugo Stielicke die Tür des Polizeireviers Nummer 31 hinter sich zu.
    »Nach Ihnen kann man ja die Uhr stellen«, bemerkte Kriminalkommissar Jascheck. Er war gerade aus seinem Büro gekommen, um sich vom Wandautomaten im Amtszimmer einen Plastikbecher Kaffee zu holen. »Auch einen?« fragte er gut gelaunt.
    »Sehr freundlich, aber mein Herz«, erwiderte der Besucher. »Kaffee gibt’s bei mir nur an Feiertagen.«
    »Die Brühe da würde Ihnen nicht schaden. Sie kommt vor Schwäche kaum aus der Leitung«, meinte der Kommissar, grinste kurz und fuhr dann fort: »Zum letzten Mal heute, wenn ich nicht irre?«
    »Wie immer irren Sie sich nicht«, sagte Stielicke höflich. Der Mann war so um die fünfzig Jahre alt, groß gewachsen und schlank. Man hätte ihn für irgendeinen Professor halten können, dessen Schultern vom fielen Studieren ein wenig vorgebeugt sind. Nur sein schneeweißes Haar deutete auf sein Alter hin. Es war nicht besonders sorgfältig frisiert.
    »Schönen guten Tag, die Herren«, grüßte Hugo Stielicke jetzt die uniformierten Polizisten, die hinter Schreibtischen saßen oder mit Besuchern zu tun hatten.
    »Gleichfalls schönen Tag«, erwiderten die Beamten. Einer von ihnen schmunzelte und meinte: »Mann, Sie werden uns richtig fehlen.«
    Vor sechs Monaten war der schlanke Professorentyp mit dem weißen Haar nach zwei Jahren aus dem Knast entlassen worden. Eigentlich hätte er länger sitzen müssen. Aber das Amtsgericht hatte ihm wegen guter Führung ein paar Monate geschenkt, allerdings mit der Auflage, sich nach der Entlassung ein halbes Jahr lang jede Woche bei seinem zuständigen Polizeirevier zu melden. Und das hatte er dann auch getan: donnerstags und immer um die Mittagszeit.
    Zwischen Kriminalkommissar Jascheck, den Revierpolizisten und dem ehemaligen Häftling hatte sich dabei fast so etwas wie ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Stielickes Besuche waren zu einer Gewohnheit geworden, die den üblichen Alltag angenehm unterbrachen. Der Mann hatte Humor und war schließlich kein Krimineller der üblen Sorte. Er hatte
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