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Das unheimliche Haus

Das unheimliche Haus

Titel: Das unheimliche Haus
Autoren: Alfred Weidenmann
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der Bundesrepublik Deutschland verbreitete, war alles andere als ein scharfer Hund. Er nannte seine Schüler beim Vornamen und behandelte sie trotzdem wie Erwachsene. Fehler fand er nicht blamabel, nur manchmal ein wenig wundersam. Und er war nicht angesteckt von der Berufskrankheit mancher Lehrer, die ihre Schüler bei jeder Gelegenheit merken lassen, daß man ihnen nicht trauen darf. Sein Unterricht machte Spaß. Im Augenblick hatte er die ganze 10 c auf einen imaginären Kohlenfrachter verladen und schipperte mit ihr über die Weser der Nordsee entgegen.
    Paul Nachtigall unterbrach den Studienrat nur ungern. Aber er hatte gerade wieder einmal auf seine Armbanduhr geblickt, und jetzt war es soweit. Er hob die rechte Hand in die Luft und sagte leise: »Ich bitte um Entschuldigung, aber würden Sie gestatten...«
    Weitere Verzierungen mußte sich der Boß der Glorreichen Sieben nicht abbrechen.
    »Was sein muß, muß sein«, bemerkte Studienrat Fink, ohne von der ausgebreiteten Landkarte aufzublicken. Er dachte gar nicht daran, sich stören zu lassen, und fuhr ohne Pause fort: »Jetzt wird’s spannend, meine Herren. Wenn wir an Backbord über die Reling blicken, entdecken wir, wie unsere Weser ganz unvermutet in eine Linkskurve geht und dabei immer breiter wird. Wenn wir die Luft tief durch die Nase ziehen, riechen wir schon das Meer...«
    Inzwischen hatte Paul Nachtigall in seinen Tennisschuhen fast geräuschlos die Tür erreicht, öffnete sie behutsam und stand dann auf dem leeren Korridor.
    Ein Stockwerk tiefer war es für Karlchen Kubatz bedeutend schwieriger, sich aus seiner Klasse zu verdrücken. Aber das war ihm und den Glorreichen Sieben von Anfang an klar gewesen.
    Die 9 b schwitzte nämlich schon in der zweiten Stunde über einer Klassenarbeit. Sie war von Studienrat Dr. Purzer, der Schul-vorschrift entsprechend, bereits vor einer Woche angekündigt worden. »Wohlbemerkt, dabei geht’s so kurz vor den Zeugnissen für manchen von euch endgültig um die Wurst«, hatte er wissen lassen und dabei gelächelt, als würde er der ganzen Klasse zum Geburtstag gratulieren. »Es wird so eine Art Drahtseilakt werden, wenn ich mir diesen Vergleich gestatten darf. Wer in Mathematik auf der Kippe herumbalanciert, kann sich mit einem Salto bis zur nächsthöheren Note katapultieren, oder er fliegt ein für allemal vom Seil und auf den Bauch. Ich habe mich hoffentlich klar genug ausgedrückt?«
    »Klarer geht’s gar nicht mehr«, hatte Emil Langhans als Klassensprecher knapp und trocken geantwortet.
    Dr. Purzers Drohung betraf etwa ein knappes Drittel der 9 b.
    Vor allem aber den stupsnasigen Manuel Kohl, dessen Eltern am Marktplatz ein Blumengeschäft betrieben. In seinen Gehirnzellen mußte ein mathematischer Störsender rotieren. Seine Antenne schaltete auf Null, sobald irgendein Zahlensalat auf ihn zukam. Von Wurzeln und Logarithmen ganz zu schweigen. Dagegen konnte er anbüffeln, soviel er wollte. Es war hoffnungslos.
    Wenn Manuel heute nicht mindestens eine Drei zusammenbrachte, wurde er unter Garantie nicht versetzt und drehte im kommenden Jahr im gleichen Klassenzimmer seine Ehrenrunde. Leider gehörte er sehr wahrscheinlich zu denen, die nach Dr. Purzers Prophezeiung drauf und dran waren, heute vom Seil und auf den Bauch zu knallen — falls nicht im letzten Moment ein mittelprächtiges Wunder geschah.
    Und so ein mittelprächtiges Wunder wollten die Glorreichen Sieben vollbringen.
    »Manuel darf nicht durchrasseln«, hatte zuerst der dickliche Sputnik gefordert, der seit neuestem fast immer eine marineblaue Astronautenmütze auf dem Kopf hatte. »Bloß, weil er in Mathe ein Luftloch hat, das wäre doch bodenlos ungerecht. In allen anderen Fächern tickt sein Wecker doch ausgezeichnet.«
    »Dem Manne kann geholfen werden«, hatte der Boß der Glorreichen Sieben kurz und bündig erklärt. »Womit ich mir erlaubt habe, Herrn Schiller zu zitieren. Fünfter Akt, letzte Szene...«
    »Die Räuber«, hatte Karlchen Kubatz bedeutungsvoll vollendet.
    Jedenfalls saß der Schüler Manuel Kohl in diesem Augenblick über sein Heft gebeugt, schrieb, überlegte, schrieb wieder und überlegte wieder. Ergab sich redlich Mühe, einen Schüler darzustellen, der mit den gestellten Aufgaben wohl einige Schwierigkeiten hat, doch keinesfalls hilflos im Nebel herumschwimmt.
    Und das war etwas Neues! Bisher hatte Manuel bei den Klassenarbeiten in Mathematik meistens schon nach einer halben Stunde das Handtuch geworfen, sein Heft ergeben
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