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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer
Autoren: Leonora Christina Skov
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da.«
    Ich glaube, mir war zu dem Zeitpunkt bereits bewusst, was passiert war. Simon gab es nicht mehr. Obwohl ich ihn nur so kurz gekannt hatte, spürte ich bereits überall seine Abwesenheit. Nella erging es vielleicht ähnlich, denn sie sah sich im Wohnzimmer mit den leblosen Alltagsmöbeln, die immer noch den Balkon umringten, suchend um. Die Stühle draußen waren mit Schnee bedeckt. Ich nickte zum Balkon hin.
    »Ich habe die ersten vier Jahre meines Lebens in dem Kinderheim dort unten verbracht.«
    Nella trat zur Tür, die, wie es schien, verschlossen war.
    »Du warst im Kinderheim?«
    »Ja, vielleicht hätte ich dir das erzählen sollen, aber es ist schon so lange her. Es bedeutet nichts mehr.«
    Eine Wahrheit mit leichten Abwandlungen, kann man heute wohl sagen. Im gleichen Moment trat Frau Hansen ins Zimmer.
    »Gehen Sie dort nicht hinaus, Fräulein Liljenholm!«
    Nella trat erschrocken einen Schritt zurück, und Frau Hansen war in Sekunden bei ihr. Ihre Hände schlossen sich um Nellas Arme.
    »Oh, Gott. Sie sehen ihm wirklich ähnlich. Ihre grünen Augen …!«
    Ich hätte nie gedacht, dass ich Frau Hansen einmal auf diese Weise weinen sehen würde. Wie der Schnee, der draußen plötzlich nach unten stürzte. Aber ich hatte schließlich auch keine Ahnung, wie viele Jahre sie auf Simon hatte warten müssen, während er sein Liljenholmer Abenteuer auslebte, wie wenig er ihr davon erzählt und wie sehr sie gefürchtet hatte, dass Nella ihren rechtmäßigen Teil des Erbes einfordern würde. (Letzteres befürchtet zu haben, leugnet Frau Hansen übrigens, das muss dann meine künstlerische Interpretation sein.)
    »Simon ist vom Balkon gesprungen«, sagte sie schließlich. »Ein paar Tage, nachdem Sie das letzte Mal hier waren, Agnes Kruse. Mein Mann ist in den Tod gesprungen. Er ist dort unten im Garten des Kinderheims gestorben, und ich … entschuldigen Sie …«
    Sie setzte sich auf den nächstbesten Plüschsessel, während ein Gedankensturm durch meinen Kopf wirbelte. Ich, die ich mit Simon über das Kinderheim gesprochen hatte. Die Art, wie er genickt hatte. Meine Verwunderung, als etwas in seinen Augen an seinen Platz fiel. Vielleicht hatte er in diesem Moment beschlossen, seinem Leben dort ein Ende zu setzen, wo meins begonnen hatte, solange er sich noch erinnerte, warum er nicht mit sich weiterleben konnte. In meinem Kopf machte das mehr Sinn als auf dem Papier, befürchte ich. Nella musste die Tassen vor uns hingestellt und Kaffee eingegossen haben. Jetzt fragte sie, ob jemand Zucker wolle, und wenn ja, wie viel. Den zierlichen silbernen Löffel, den sie in die Zuckerdose steckte, zierte eine kleine Krone. Das Geräusch war zart. Sie gab einen Löffel Zucker in ihre Tasse und rührte um, sodass der Löffel leise gegen das Porzellan klirrte. Frau Hansen starrte sie an.
    »Wenn ich Sie jetzt so ansehe, wünschte ich, Simon hätte Sie noch gesehen, bevor er gesprungen ist«, sagte sie. »Sie sind sein direktes Ebenbild, Fräulein Liljenholm. Das hätte ihn so gefreut. Ich kann gar nicht … ja, wir haben nie Kinder bekommen. Damals habe ich gedacht, dass nur ich darunter leide, aber ich habe mich getäuscht. Simon hat weit mehr darunter gelitten, als ich gedacht habe.«
    Sie sah auf ihre Hände.
    »Erst als er tot war und ich … seine Papiere … gründlich durchgesehen habe, ist mir klar geworden, wie sehr ihn unsere Kinderlosigkeit belastet hat. Und wie sehr er Sie vermisst hat. Ich glaube, ich war schockiert. Jedenfalls habe ich sofort jedes einzelne Dokument und jede Fotografie und was er sonst noch gesammelt hatte, verbrannt. Auch Ihre unbrauchbaren Abschriften, Fräulein Kruse.«
    Sie warf einen Blick in meine Richtung, allergnädigst, wie mir schien.
    »Ich hatte gehofft, alles zu vergessen«, fuhr sie fort. »Ich wollte nicht in etwas verwickelt werden.«
    Unter anderen Umständen hätte mich die Ironie des Schicksals amüsiert. Ich hatte zwei Akten aus Simons Schrank gestohlen, die eine mit Antonias Namen in schiefen Blockbuchstaben, die andere mit Lilys, und in Wirklichkeit hatte ich sie vor der Vernichtung gerettet. Beide Akten befinden sich heute natürlich in Nellas Besitz.
    »Er hat Ihnen jeden Tag geschrieben, Fräulein Liljenholm«, hörte ich Frau Hansen sagen. Nella hatte ihren Stuhl näher herangerückt. Jetzt griff sie nach Frau Hansens Händen.
    »Hat er das wirklich?«
    Frau Hansens Fingerknöchel waren ganz weiß.
    »Ja, er hat Sie vermisst, und ich wollte es nicht wahrhaben. Ich
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