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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer
Autoren: Leonora Christina Skov
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wollte einfach nichts über seine Zeit auf Liljenholm wissen. Das war unsere Abmachung, die wir getroffen haben, als ich ihn zurückbekam und wir geheiratet haben. Diese Abmachung hat er genauso respektiert wie die, die er mit Ihnen auf Liljenholm getroffen hatte, wie ich jetzt erfahren habe. Was Antonia anging. Wenn es darum ging, Wort zu halten, war er ein Ehrenmann. Als ich seine Briefe gelesen habe, dachte ich zuerst, dass er geholfen hat, Lily umzubringen. Ich wollte ihn um alles in der Welt beschützen.«
    Ich hätte ihr so gerne recht gegeben, doch Nellas Blick hielt mich davon ab. Frau Hansen sah unsicher in ihre Tasse.
    »Später ist mir klar geworden, dass Simon seine Angst mit jemandem teilen musste. Während er noch lebte, habe ich nicht verstanden, warum er eine Sekretärin wollte, aber er konnte wohl nicht in den Tod gehen, bevor er jemanden in seinen Verdacht eingeweiht hatte, dass Lily etwas passiert und Antonia auf dem Speicher in Gefahr sein könnte … ja, und das sind dann Sie geworden, Fräulein Kruse. Denn so hing doch wohl alles zusammen, nicht wahr?«
    Nella und ich nickten.
    »Und jetzt ist Antonia tot, wie ich höre?«
    Nella kam mir zuvor.
    »Leider sind beide gestorben.«
    Frau Hansen wollte nach der Kaffeetasse greifen, doch ihre Hand hielt auf halbem Weg inne. Sie glich einem flügellahm geschossenen Vogel, als sie in ihren Schoß fiel. Frau Hansen sah mich an.
    »Wie haben Sie es herausgefunden, Fräulein Kruse? Hat Simon Ihnen alles erzählt?«
    »Nein, Simon hat sein Versprechen nicht gebrochen. Ich habe es selbst herausgefunden, doch das ist eine längere Geschichte …«
    Frau Hansen schien mir nicht zuzuhören. Ich hätte eigentlich gerne hinzugefügt, dass ich sie eines Tages wohl aufschreiben würde.
    »Wir haben viel zu wenig miteinander geteilt, Simon und ich«, sagte sie. »Er war mit seiner Sehnsucht nach Ihnen ganz alleine, Fräulein Liljenholm. Die ganzen Jahre hat er Sie vermisst. Wenn man sich für so etwas entschuldigen könnte, würde ich es tun.«
    Nella sah an ihr vorbei. Auf den Balkon hinaus, der immer mehr zuschneite.
    »Sie können es ja versuchen«, sagte sie und tätschelte Frau Hansen die Hand. »Das hat noch nie jemandem geschadet, Frau Hansen, soweit ich weiß.«
    Manchmal denke ich, dass ich, ungeachtet dessen, was ich tue und wie viel ich erreiche, immer die bleiben werde, die damals vor vielen Jahren im Kinderheim zurückgelassen wurde. Diejenige, die sich die Liebe anderer verdienen muss; Nella hingegen ist diejenige, die von Anfang an erwünscht war und ihre Privilegien mit einer Selbstverständlichkeit annehmen kann, die mir fremd ist. Sie findet nichts Merkwürdiges daran, dass Karen und Lillemor in ihr und Bella ihre verlorenen beziehungsweise nicht existenten Töchter wiedergefunden haben. Ihre Zuneigung ist offensichtlich, und in meinen traurigen Stunden würde ich mir wünschen … ja, das können Sie sich wohl denken.
    Doch dann erinnere ich mich an Simon und was für ein Glücksfall es war, ihm begegnet zu sein. Es mag sein, dass er viel zu früh aus Nellas Leben verschwunden ist, doch in meins ist er getreten, als ich ihn am meisten gebraucht habe. Außerdem bilde ich mir ein, dass er gesehen hat, wer ich in Wirklichkeit bin. Hat er mich denn nicht Lily genannt und darauf beharrt, dass ich jemandem ähnlich sehe, den er kannte? Und hat er nicht erwähnt, dass wir auch noch eine andere Agnes kannten? Jedenfalls hat er mich auf die Spur all dessen gebracht, was ich von Anfang an über mich hätte wissen sollen, und wenn es nach mir ginge, wäre dieses Buch hier ihm gewidmet.
    Doch wenn Nella sagt, »Widme es doch den Lebenden, Agnes!«, hat sie damit bestimmt recht. (Obwohl sie, soweit ich mich erinnere, ihren Teil des Buchs dem mausetoten Fräulein Lauritsen gewidmet hat. Aber was für den einen gilt, gilt offenbar nicht für den anderen.)
    Die Lebenden. Das Beste an den Toten ist, dass man weiß, wie die Geschichte endet. Welche Entscheidungen zum Guten geführt haben und welche nie hätten getroffen werden dürfen. Doch andererseits ist es sonderbar befreiend, mitten in einem Leben zu stehen, das niemand hätte vorhersehen können. Bis auf meine ganz private Sünderin vielleicht, die noch immer mein Revers schmückt.
    Alles, was ich erzählt habe, klingt so unwahrscheinlich, als wäre es erfunden, und doch ist es die Wahrheit, so wahr ich hier sitze. Außerdem hege ich den begründeten Verdacht, dass ich mich auf die besten Kapitel noch freuen
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