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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer
Autoren: Leonora Christina Skov
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Marguerite und Violette zusammen mit mir hier sind. Denn auch ihnen bleiben Liljenholms Eigenheiten nicht verborgen. Ich glaube, dass ich mich nie an die knallenden Türen und die knarrenden Laute und die Dinge gewöhnen werde, die kommen und gehen wie die Schatten auf der Tapete. Auch alle Geschichten sind auf sonderbare Weise präsent. Vor allem die von Horace, der die Frauen um sich herum in diesen Zimmern in den Wahnsinn und in den Selbstmord getrieben hat. Hin und wieder überlege ich, ob er vielleicht von Beginn an verrückt war, oder ob sich hinter den Geschichten, die wir bereits kennen, noch andere verbergen. Wir werden es wohl nie erfahren. Zwar hat Fräulein Lauritsen ihr Schweigen gebrochen und erzählt, was wirklich zu ihrer Zeit passiert ist, doch auch sie war keine gebürtige Liljenholmerin. Denn dann hätte sie gewusst, dass es letztendlich darauf hinauslief, alles zu zerstören, was möglicherweise den Hausfrieden stören konnte, und zu hoffen, dass wirklich Ruhe einkehren würde, um Nella zu zitieren.
    Auf diese Weise werde auch ich nie eine richtige Liljenholmerin sein. Selbst jetzt, wo ich mich an meine zweifelhaften Wurzeln gewöhnt habe, ist Marguerite noch immer der einzige Mensch, der sich für mich vorbehaltlos wie meine Familie anfühlt. Nun ja, und Nella und Bella. Und Fräulein Lauritsen wohl auch. Vielleicht weil ich ihr Notizbuch so oft gelesen habe. Sie erscheint mir jedenfalls absolut lebendig, obwohl es bald einundzwanzig Jahre her ist, dass sie widerwillig vom Leben Abschied genommen hat. Manchmal meine ich, ihre gebeugte Gestalt irgendwo auf Liljenholm zu sehen, manchmal fühle ich mich auch beobachtet, wenn ich alleine bin. Doch ich hoffe, dass das nur Einbildung ist. Nach allem, was Fräulein Lauritsen getan hat, um mich auf die Spur meiner Familie zu bringen, wünsche ich ihr Ruhe und Frieden. Obwohl ich denke, dass sie dazu beigetragen hat, dass diese Geschichte länger und komplizierter geworden ist, als sie es hätte werden müssen.
    Als wir aus Kopenhagen von Lillemor zurückkamen, lag Fräulein Lauritsens Medaillon auf meinem Kopfkissen, und nicht auf Nellas Schreibtisch, wo wir es mit Sicherheit zurückgelassen hatten. Es war uns nie gelungen, es zu öffnen, doch an diesem Tag war der Deckel aufgeschlagen. Die Kamee darin war genau die gleiche wie in meiner Brosche. Ich muss immer wieder daran denken, wie Das Turmzimmer wohl geworden wäre, wenn ich diesen Zusammenhang gekannt hätte, als ich mit dem Schreiben begonnen habe.
    Ich wünschte, ich könnte erzählen, dass ich eines Tages, ganz zufällig, über ein Notizbuch oder einen Brief oder sonst etwas von Lily an mich gestolpert wäre, aber ich habe noch immer nichts gefunden. Bis auf ihre Worte an Nella, Du musst meine Tochter finden , und Lilys hysterische Anfälle im Spielzimmer natürlich. Sie sagen wohl auch das meiste aus. Ich habe dort drinnen jetzt einen Wintergarten eingerichtet. Die Aussicht auf den Park ist fantastisch. Die Gegenwart eines Fremden wird jedoch mit den Jahren immer stärker spürbar. Manchmal empfinde ich sie am stärksten auf Antonias alter Chaiselongue vom Speicher. (»Das ist schon morbide, dass du sie hier heruntergeschafft hast«. Ich kann Nella nahezu hören, wie sie das sagt.) Andere Male spüre ich sie am stärksten hinter mir am Fenster. Ich gehe davon aus, dass es Lily ist, die mich auf diese Weise kennenlernen will. Ich wünschte, ich wäre rechtzeitig gekommen, um ihr noch lebend zu begegnen. Doch andererseits hätte ich sie bestimmt nicht wiedererkannt. So viel zu meinen schönen Träumen, wie das Treffen mit meiner Mutter hätte ablaufen sollen! Letzten Endes wäre es vielleicht doch vorzuziehen, Nella zu sein, die nicht den geringsten Grund gehabt hatte, von ihrem Vater zu fantasieren.
    Während meines langen Aufenthalts im Selbstmordzimmer haben mich jedenfalls diese Fantasien am meisten gequält. Es war unerträglich, durchleben zu müssen, wie eine nach der anderen zerbrach, bis nicht eine meiner Fantasien mehr übrig war. Doch dann begann ich still und leise, die Dinge anders zu sehen. Denn Lilys gesamte Romane sind noch immer hier. Ich kann jederzeit in sie eintauchen, wenn ich Lust habe, Teil ihrer Welt zu werden, und außerdem … Ja, es ist wohl bewiesen, dass sie mir die Eigenschaften mit auf den Weg gegeben hat, die sie an sich am meisten geschätzt hat: ihre Schreiblust und ihre Liebe zur Literatur. Doch wäre ich Lily über die Jahre hinweg nicht immer wieder indirekt
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