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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer
Autoren: Leonora Christina Skov
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begegnet, würde ich heute bestimmt nicht hier sitzen und schreiben. Meine Geschichte in Worten drehen und wenden, nicht wahr? Man stelle sich einmal vor, so viel von einem Menschen zu erben, den man nicht einmal gekannt hat. Gar nicht erst davon zu reden, dass sie für meine Kusine Nella über viele Jahre das größte Rätsel war. Mit dem Brieföffner und allem.
    Was Lillemor angeht, bin ich ratlos. Die ersten Male, die ich sie nach meinem und Nellas Besuch in Nyhavn gesehen habe, saß sie auf der Kante des Himmelbetts, dem noch immer der Himmel fehlt. Ihre Hände zerknüllten und glätteten unablässig eins ihrer bestickten Taschentücher.
    »Ich habe versucht, das Beste für dich zu tun«, sagte sie immer wieder, bis ich mich abwandte.
    »Agnes?«
    »Das Notizbuch war der Schlüssel zu allem, und du hast es mir vorenthalten. Wie sollte das auch nur annähernd das Beste für mich sein?«
    Ich wusste sehr wohl, dass es nichts brachte, sie anzuschreien, doch ich konnte es nicht lassen.
    »Was wäre gewesen, wenn ich nicht ganz zufällig Simons Annonce gelesen hätte? Hätte ich dann nie erfahren, wer meine Familie ist? Oder wie hast du dir das gedacht?«
    Ich hörte, dass Lillemor wieder weinte. Es wunderte mich wirklich, woher sie all die Tränen nahm.
    »Mein liebes Mädchen, ich wollte doch nur, dass du mich für deine Mutter hältst. Was solltest du denn mit zweien? … Agnes? Ich habe doch nur versucht, dich zu schützen.«
    »Ich habe dich nie gebeten, mich zu schützen.«
    Hinter meinem Rücken war es still.
    »Man schützt die, die man liebt, das weißt du doch.«
    Ich sah sie vor mir an dem Sommertag vor langer Zeit. Auf dem Weg zu mir, in ihrem feinen, weißen Kleid, das beim Gehen wippte. Du kannst mich Lillemor nennen, Agnes. Meine Arme um ihre Beine. Meine Eltern müssen gedacht haben, dass ich einmal eine gute Mutter werde, meinst du nicht? Jetzt legte sie mir die Hand auf die Schulter. Ich wusste nicht, wie ich sie abschütteln sollte.
    »Ich hatte doch keine Ahnung, dass es dir so viel bedeuten würde, all diese schrecklichen Dinge zu erfahren, Agnes … verstehst du? Und was Liljenholm und das Vermögen angeht, woher hätte ich denn wissen sollen, dass das für dich einen Unterschied machen würde? Du hättest doch Geld von mir bekommen können. So viel du wolltest! Warum durfte ich dir nie etwas geben?«
    Ich gehe davon aus, dass dieses Buch ihre Frage beantwortet hat. Jedenfalls hat sie mich nicht mehr gefragt, seit sie es gelesen hat. Sie kommt oft mit ihren vielen Koffern zu Besuch und behauptet, die Aufenthalte hier zu genießen, doch ich bin mir ziemlich sicher, dass das, was sie wirklich genießt, ihre vielen Besuche bei Nella und Bella (und bei Hans Nielsen vermutlich) auf Frydenlund sind. Ich weiß, dass sie ihnen selbstgenähte Kleider mitbringt, und Bella hat vor Kurzem auch ein Dagmarkreuz bekommen. Doch Nella lacht nur, wenn ich meine Bekümmerung zum Ausdruck bringe.
    »Weißt du was«, sagt sie, »solange deine Lillemor nicht anfängt, das Mädchen Agathe zu nennen, ist das für mich absolut in Ordnung. Du musst endlich darüber hinwegkommen, dass sie sich damals mit Herrn Svendsen über dich unterhalten hat. Seitdem ist so viel Wasser den Fluss hinuntergeflossen, dass es bald ein ganzer Ozean sein muss. Lillemor ist so reizend zu Bella und so furchtbar stolz auf dich. Das sagt sie jedes Mal, wenn wir uns sehen.«
    »Dann sprecht ihr also über mich?«
    Nella kann als Einzige noch immer die Augen über mich verdrehen, ohne dass ich rotsehe. Vor Kurzem ist sie auf Liljenholm vorbeigekommen und hat gesagt, dass sie eine Idee für dieses Nachwort hat. Oder eigentlich hat sie nur gefragt: »Bist du nicht bald fertig mit dem Nachwort, Agnes?«
    Und ich habe, leicht verärgert, geantwortet: »Gib mir doch ein wenig Zeit! Ich habe die Leser noch immer nicht in eine wichtige Geschichte eingeweiht. Ich hätte sie eigentlich schon vor vier Jahren erzählt, wenn du nicht so freundlich gewesen wärst, mein Buch für mich zu beenden.«
    Nella sah aus, als würde sie bis zehn zählen, während sie das riesige Bild studierte, das die Wand über meinem Bett schmückt. Lilys Lieblingsbild von sich. Das mit den langen Wimpern und Nella im Hintergrund, die eher Ähnlichkeit mit einer Lampe als mit einem Mädchen hat. Darunter hat Marguerite ein ganz einfaches silbernes Kreuz gehängt. Aus unerfindlichen Gründen meint sie, dass das zu mir passt.
    »Ich hasse dieses Bild von Mutter«, sagte Nella, und ich
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