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Das Tor ins Nichts

Titel: Das Tor ins Nichts
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Hand tastete nach der Schreibtischschublade, zog sie lautlos auf und fand den kleinen Revolver, den ich darin aufzubewahren pflegte. Vorsichtig, um kein überflüssiges Geräusch oder etwa eine verräterisch hastige Bewegung zu machen, nahm ich ihn an mich, drehte mich um und ging mit erzwungen ruhigen Schritten zum Fenster.
    Wieder hörte ich den raschelnden Laut, viel deutlicher diesmal und näher. Es klang, als rieben sich kleine, weiche Körper aneinander. Der Friedhofsgeruch wurde stärker.
    Mein Herz begann zu hämmern, und das Verlangen, herumzufahren und aus dem Zimmer zu stürzen, wurde beinahe übermächtig.
    Mit aller Selbstbeherrschung, die ich aufzubringen imstande war, trat ich zum Fenster und zog mit einer einzigen Bewegung den Vorhang zur Seite. Gleichzeitig wirbelte ich herum und riß die Waffe in die Höhe.
    Der Anblick ließ mich erstarren.
    Das Mondlicht strömte wie ein silberner Scheinwerferstrahl durch das Fenster und tauchte das Arbeitszimmer in beinahe taghelles Licht.
    Der Boden bewegte sich! Schwarze Schlangen aus Finsternis bebten und zuckten auf mich zu, bizarre Grimassen aus substanzgewordener Dunkelheit grinsten mich an, glitzernde Spinnenbeine tasteten zitternd in die Luft, und etwas Großes, Körperloses, Schwarzes waberte und wogte wie brodelnder Nebel über dem Boden.
    Dann zerstob die Illusion. Die klumpige Dunkelheit ballte sich zu Körpern, und ich sah, was es wirklich war.
    Ratten.
    Auf dem Teppich vor dem Kamin lagen Dutzende von Ratten, große, häßliche Tiere mit schwarzgrauem Fell, die meisten tot oder sich in Krämpfen windend, andere auf grauenhafte Weise verstümmelt und verkrüppelt. Nur wenige hatten noch die Kraft, sich mühsam von der Stelle zu rühren.

    Für endlose Sekunden blieb ich reglos vor Schreck beim Fenster stehen. Mein Magen krampfte sich zu einem harten, schmerzhaften Klumpen zusammen, meine Hand umklammerte den nutzlosen Revolver so heftig, daß sie zu zittern begann, und trotz des eisigen Schauers, der mir über den Rücken rieselte, brach mir am ganzen Körper der Schweiß aus.
    Es war mir unmöglich, den Blick von der grauenhaften Erscheinung abzuwenden.
    Die Ratten bildeten einen großen, zuckenden Berg aus Leibern und ineinander verkrallten Gliedmaßen, eine einzige, schwärzliche Masse, die wie ein riesiges bizarres Tier zappelte und bebte. Viele von ihnen hatten sich im Todeskampf in ihre Artgenossen verbissen, andere lagen verkrümmt da, in unmöglichen Haltungen, in die sie die tödlichen Krämpfe gezwungen hatten, und wieder andere waren auf fürchterliche Weise entstellt, die Leiber aufgedunsen und verquollen wie haarige Bälle, mit zerbrochenen Gliedmaßen und Gesichtern ohne Augen und Mäulern; einige hatten große, blutige Wunden im Fell, als wären ihnen ganze Fleischstücke herausgerissen worden.
    Erst, als eine der grauenhaft entstellten Kreaturen auf mich zuzukriechen begann, erwachte ich aus meiner Erstarrung.
    Mit einem gellenden Schrei sprang ich zurück, prallte schmerzhaft gegen die marmorne Fensterbank und drückte, halb von Sinnen vor Entsetzen und Ekel, den Abzug des Revolvers durch.
    Der peitschende Knall zerriß die Stille wie ein Kanonenschlag. Die Kugel verfehlte das Tier und riß eine Handbreit neben ihm Splitter aus dem Boden, denn meine Hände zitterten so stark, daß ich die Waffe kaum zu halten, geschweige denn zu zielen vermochte. Aber die Ratte erschlaffte trotzdem mitten in der Bewegung, zuckte noch einmal und lag dann still.
    Wie zur Antwort auf den Knall des Pistolenschusses ertönte irgendwo im Haus ein erschrockener Ruf, dann hörte ich eine Tür schlagen und Jeremy schreien, aber die Geräusche blieben sonderbar irreal und bedeutungslos. Der furchtbare Anblick hielt mich noch immer gefangen, und mit jeder Sekunde, in der sich meine Augen mehr an die Dunkelheit gewöhnten und ich weitere Einzelheiten zu erkennen vermochte, wuchs der Schrecken.
    Die Ratten bildeten einen fast halbmeterhohen, kribbelnden, wogenden Klumpen vor dem Kamin, aber dahinter, wie eine grausige Spur, zog sich eine Kette toter Tiere quer durch die Bibliothek, lief im Zickzack über den Parkettboden und endete vor dem Schreibtisch. Mein Herz schien auszusetzen und hämmerte dann doppelt so schnell weiter, als ich sah, daß einer der entstellten Kadaver direkt neben der Lampe auf der Schreibtischplatte lag wenige Zentimeter von der Stelle entfernt, an der meine Hand gewesen war.
    Ich versuchte, das immer stärker werdende Ekelgefühl zu
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