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Das Tor ins Nichts

Titel: Das Tor ins Nichts
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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unterdrücken, trat ein Stück vom Fenster fort und sah, daß sich die Spur aus toten oder sterbenden Ratten hinter dem Schreibtisch fortsetzte, in einem leicht geschwungenen Bogen zur anderen Seite des Zimmers führte und am Fuße der Standuhr abbrach.
    Das heißt nicht an ihrem Fuß.
    Draußen auf dem Gang wurden polternde Schritte und Stimmen laut, dann wurde die Tür so heftig aufgestoßen, daß sie wuchtig gegen die Wand krachte, und Jeremy stürmte herein.
    Aber ich bemerkte ihn kaum, sondern starrte aus ungläubig aufgerissenen Augen auf die gräßliche Standuhr.
    Das angeblich so sichere Schloß war spurlos verschwunden, die Tür des mannshohen, monströsen Möbels stand eine Handbreit offen, und aus dem Spalt blickten mich die gebrochenen Augen einer Ratte an.

    Jeremy hatte die Schreibtischlampe eingeschaltet, und das plötzliche Licht tat meinen Augen fast weh. Vielleicht war das Schlimme aber auch nur das Bild, das der helle Schein der Glühbirne so gnadenlos enthüllte. Vorhin, als ich nur Schemen erkannt hatte, war es erschreckend und unheimlich gewesen.
    Jetzt war es ein Alptraum.
    Es war eine Szene wie aus einem Gemälde von Hieronymus Bosch: auf entsetzliche Weise verstümmelte und verunstaltete Körper, zuckende Bündel aus Fell und rohem, glitzerndem Fleisch und Blut. Tiere, die mit und ineinander verwachsen waren, grausige Kreaturen, die keinen Anspruch auf Leben hatten. Der Ekel wurde so übermächtig, daß ich mich beinahe übergeben mußte.
    »Mein … Gott … was … ist … das?«
    Es dauerte Ewigkeiten, bis die Stimme den Schleier aus Lähmung und grenzenlosem Entsetzen durchbrach, der sich um meine Sinne gelegt hatte, und ich sie als die Jeremys erkannte.
    Mühevoll löste ich meinen Blick von der entsetzlichen Erscheinung, starrte ihn sekundenlang an und machte einen schwerfälligen Schritt auf die Standuhr zu.
    »Nicht«, sagte Jeremy scharf. »Rühr sie nicht an!«
    Ich gehorchte. Es war ja nicht das erste Mal, daß ich erlebte, wie sehr der harmlose Eindruck täuschte, den die vermeintliche Standuhr auf einen unbefangenen Betrachter ausübte, aber sowohl Jeremy als auch ich hatten seit den Ereignissen jener entsetzlichen Nacht, in der mein Vater gestorben war, gehofft, daß das schaurige Tor durch die Zeiten nun endgültig geschlossen, daß die unheimliche Magie der Uhr auf immer zerstört sei.
    Das Bild, das sich uns bot, überzeugte uns auf recht drastische Weise vom Gegenteil. Keine zehn Pferde hätten mich jetzt noch dazu gebracht, die Uhr auch nur zu berühren!
    »Was ist passiert?« fragte Jeremy. Obwohl er sich Mühe gab, so ruhig und sachlich wie gewohnt zu klingen, hörte ich deutlich das Zittern in seiner Stimme. Ich warf ihm einen raschen Blick zu und bemerkte, daß sein Gesicht bleich wie Schnee und von feinen Perlen glitzernden Schweißes bedeckt war. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, als müsse er, genau wie ich, schlucken, um seiner Übelkeit Herr zu werden.
    »Ich weiß es nicht«, murmelte ich. »Ich bin hereingekommen, und …« Ich sprach nicht weiter, denn in diesem Moment bewegte sich etwas dicht neben meinem rechten Fuß. Ein kleiner grauer Ball kroch auf mich zu, stieß ein klägliches Quietschen aus und verendete. Voller Entsetzen führte ich mir die Tatsache vor Augen, daß längst nicht alle Ratten tot waren.
    Ich wies auf die Uhr. »Sie müssen durch das Tor gekommen sein.«
    Jeremy sah mich zweifelnd an. Er machte einen Schritt auf die halb offenstehende Uhr zu, blieb stehen und ließ sich dicht neben dem Strom graubrauner toter oder sterbender Ratten in die Hocke sinken. Seine Gelenke knackten. Einen Moment lang sah er sich suchend um, dann deutete er mit einer Kopfbewegung auf das Lineal, das auf meinem Schreibtisch lag, und streckte fordernd die Hand aus.
    Ich reichte es ihm. Jeremy drehte sich in der Hocke herum und angelte mit dem Ende des Lineals nach der Tür der Standuhr. Die Scharniere knirschten leise, als das massive Eichenholzblatt vollends nach außen schwang.
    Jeremy prallte mit einem nur halb unterdrückten Schreckensruf zurück, als Dutzende und aber Dutzende von toten Ratten wie eine braune, haarige Lawine aus der Uhr auf den Boden kollerten. Mißgestaltete Klauen krallten sich in den Teppich.
    Kleine, trübe Rattenaugen starrten uns beinahe vorwurfsvoll an. Verstümmelte Leiber zuckten.
    Mit rasendem Herzen trat ich hinter ihn und spähte in die Uhr. Pendel und Gewichte waren verschwunden; aber das hatte ich erwartet. Was ich nicht
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