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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel
Autoren: Eliot Pattison
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dann tun wird!«
    Nach dem Essen an jenem ersten Abend erklärte Shopo, daß drei Monate zuvor ein Orakel im Tal von Yapchi, wohin das Artefakt gehörte und wo bis zu diesem Zeitpunkt noch niemand von seiner Entdeckung wußte, verkündet hatte, das Auge könne nur von einem tugendhaften Chinesen zurückgebracht werden, einem ganz bestimmten Chinesen mit reinem Herzen. Als Gendun davon erfuhr, befand er sich auf dem Weg nach Lhadrung. Er änderte sofort die Richtung und machte sich auf die Suche nach den Deutern des Orakelspruchs, denn ihm war klar, welcher Chinese damit gemeint sein mußte.
    Shan bedrängte die Lamas nicht mit Fragen. Die Geschichte von dem Stein mußte auf eigene Weise zum Vorschein kommen. Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, daß es für die Dinge, die Tibetern am wichtigsten waren, meistens keine Worte gab, und selbst wenn sie Worte fanden, scheuten sie sich davor, diese auszusprechen. Für Leute wie Gendun und Lokesh stellten Worte tückische, unzulängliche Dinge dar, mit deren Hilfe die Menschen nur sehr dürftige Verbindungen knüpfen konnten. Falls das Auge tatsächlich eine große Bedeutung besaß, würde man Shan nicht über das eigentliche Artefakt belehren, sondern darüber, wie man es gedanklich erfassen sollte, wie sich das Auge in sein ganz persönliches Bewußtsein eingliedern ließ.
    Seitdem waren viele Wochen vergangen, und Shan wünschte sich immer noch, er könnte es besser verstehen. Das Steinauge schien ihn zu verspotten und sprach auch weiterhin den Teil des alten Shan an, der einfach nicht sterben wollte, den Ermittler, der andauernd Fragen stellen mußte. Wieso waren die Tibeter gewillt, für diesen Stein zu sterben?
    Draußen erklang eine aufgeregte Stimme, gefolgt von einer weiteren. Shan eilte sofort zur Tür. Die Frau, die sich mit ihrem Bruder um die Einsiedelei kümmerte, eine dropka mittleren Alters, stand oben auf dem Kamm und wies über die Gebäude hinweg zum gegenüberliegenden Hang. Einige der Nomaden, die in zweihundert Metern Entfernung ein Zelt aufgeschlagen hatten, waren in ihre Rufe eingefallen. Shan lief zur Rückseite des Hauses und entdeckte zu seiner Erleichterung eine vertraute Gestalt in einem langen braunen Gewand.
    Es war Nyma. Sie hatte die Klause letzte Woche verlassen, um den besonderen zinnoberroten Sand zu holen, den man nur an einer bestimmten Quelle unweit der hohen Gletscher finden konnte. Auf ihrem Weg den Pfad hinunter drehte und wiegte Nyma sich die ganze Zeit. Sie glaubte sich unbeobachtet und tanzte. Sie tanzte vor lauter Freude, spürte Shan, weil sie den letzten Sand brachte.
    Als die Bewohner der Einsiedelei sich wenig später im Kreis mit ihr niedersetzten und den Beutel Sand betrachteten, den sie vom Gletscher geholt hatte, konnte Nyma gar nicht mehr aufhören zu lächeln. »Der Bach war gefroren«, sagte sie, um zu erklären, weshalb die Reise einige Tage länger als erhofft gedauert hatte. »Also habe ich mich hingesetzt und gewartet.«
    Langsam und feierlich nahm sie mit beiden Händen den Hut ab, unter dem sie ihre Zöpfe auf dem Scheitel festgesteckt hatte, legte ihn zu Boden und verschränkte die Hände im Schoß. »Am zweiten Tag kam ein warmer Wind auf, und das Eis fing an zu schmelzen. Am dritten Tag öffnete sich genau vor mir ein Loch, gerade groß genug, daß meine Hand hindurchpaßte.«
    Shan ließ den Blick über die drei Männer schweifen, die mit ihm hier saßen. Auf Lokeshs Gesicht lag das für ihn typische schiefe Grinsen, das nur deswegen schief war, weil der Stiefel eines Kriechers ihm vor vielen Jahren den Kiefer gebrochen hatte. Gendun lächelte und nickte erst Nyma, dann Shan würdig zu, als wolle er bestätigen, daß nun endlich die entscheidende Nacht bevorstand und daß ungeachtet aller Qualen im restlichen Tibet ihr kleiner entlegener Außenposten sich im Einklang mit dem Universum befand.
    Neben ihnen saß Shopo in einer verschlissenen kastanienbraunen Robe, der hier in dieser illegalen Einsiedelei lebte, seit man ihn vor zwanzig Jahren aus seinem Kloster vertrieben hatte. »Alles hat sich gut gefügt«, stellte er heiter und gelassen fest. Nymas Sand war der perfekte Beitrag zur Vervollständigung der Arbeit und fiel dank der Achtung, die sie dem Berg erwiesen hatte, nur um so machtvoller aus. Sie hatte sich den roten Sand nicht einfach genommen, sondern abgewartet, bis das Eis geschmolzen war und der Berg ihr von sich aus den Zugang ermöglicht hatte.
    Shopo nahm den Beutel und schüttete dessen
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