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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel
Autoren: Eliot Pattison
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die Lamas ihn gelehrt, wie er beim Auftragen des Sandes die Hände halten und seinen Geist konzentrieren mußte, bis Shan spürte, daß es weniger darum ging, ein Werkzeug zu benutzen, als vielmehr ein Gebet darzubringen. Danach hatten sie gemeinsam das Muster geübt, das Shan mit weißem Sand entlang des äußeren Kreisrands erschaffen würde.
    »Folge dem Bogen, den eine Lerche im Flug be schreibt«, hatte Gendun erklärt und dabei den langen anmutigen Gleitflug zwischen zwei Flügelschlägen des Vogels gemeint. Als Shan daraufhin auf seltsame Weise aufgeregt und traurig zugleich wirkte, hatte der Lama seine Verwunderung zum Ausdruck gebracht.
    »Es ist nichts«, hatte Shan geflüstert und die plötzlichen Erinnerungen wieder verdrängt. Sein Vater hatte einst fast die gleichen Worte benutzt, in nahezu identischem Tonfall von Vögeln, Weiden und dem Wind gesprochen und dabei mit seinem Pinsel Muster in die Luft gemalt, um Shan die ersten chinesischen Ideogramme beizubringen.
    Unvermittelt begriff Shan, daß jemand neben ihm saß. Er wandte den Blick von den Wolken ab und schaute in Genduns gütiges Gesicht.
    »Wir werden auf Berge steigen müssen«, stellte der Lama lakonisch fest. Er saß mit übergeschlagenen Beinen im Lotussitz, als wäre er aus einer Meditationszelle herbeigezaubert worden. Seine Worte stellten eigentlich eine Frage dar: ob Shan bereit sei, nicht etwa für das Mandala, sondern für die Reise, zu der sie im Anschluß aufbrechen würden und die überhaupt erst der Anlaß für das Mandala gewesen war. So wie andere Leute zur Vorbereitung einer beschwerlichen Fahrt Vorräte zusammenstellen und Landkarten studieren würden, hatten die Lamas Shan, Lokesh und Nyma systematisch mit Bildern des Diamantenen Schreckens gestärkt. Oder sogar, wenn man Lokeshs beklemmender Andeutung glauben durfte, Shan darauf vorbereitet, das Werk des Diamantenen Schreckens zu verrichten.
    »Ich bin bereit für die Berge, Rinpoche«, sagte Shan und sprach ihn damit als ehrwürdigen Lehrer an.
    Gendun musterte ihn mit funkelndem Blick. Meistens benötigten die beiden keine Worte, um sich zu verständigen. »Und du wirst nicht nur auf Dungfladen achtgeben müssen«, fügte der alte Lama hinzu.
    Shan sah seinen Lehrer verwirrt an. »Ich dachte, Tenzin würde hierbleiben, Rinpoche«, sagte er. Tenzin hatte während der letzten zwei Monate kein einziges Wort gesprochen, doch sein bekümmertes, seelisch gebrochenes Gemüt kam Shan bekannt vor; ihm war nicht entgangen, daß die dropkas dem Mann geraten hatten, sich von den Straßen fernzuhalten. Er war aus dem Gulag geflohen, hatte Shan erkannt. Noch ein Flüchtling, der versuchte, wieder zum Leben zu erwachen und den Funken im Innern zu finden, den so viele so lange hatten auslöschen wollen.
    »Er geht nach Norden. Jemand ist gestorben.«
    Shans Lächeln verschwand vollends.
    »Nein«, fügte Gendun schnell hinzu. »Nicht auf diese Weise«, sagte er und meinte damit, daß es sich nicht um eines jener geheimnisvollen Gewaltverbrechen handelte, von deren Aufklärung der alte Shan, der Ermittler aus Peking, regelrecht besessen gewesen war. »Es hat nichts mit dem Stein oder einem von uns zu tun. Er geht einfach nur nach Norden, und ich mache mir Sorgen um ihn.«
    Wenngleich Tenzin für gewöhnlich mit ihnen aß und einen Anteil der Hausarbeit übernahm, hatte er sich von Shan ferngehalten und ihm keine Gelegenheit gegeben, ihn näher kennenzulernen. Zunächst war Shan sein Verhalten wie Reserviertheit vorgekommen, denn Tenzin besaß eine merkwürdig aristokratische Ausstrahlung, sogar wenn er seinen Dungsack trug. Mehr als einmal hatte Shan sich zudem gefragt, ob dem Mann durch Gendun oder Shopo als Bestrafung für irgendein Vergehen eine Buße auferlegt worden war. Männer wie er begingen auf der Flucht manchmal Gewalttaten, um nicht gefaßt zu werden. Gendun mochte ihn für den Mord an einem Wärter nicht verdammen, aber er würde sich sorgen, welchen Schaden eine solche Tat seinem inneren Gott zufügen könnte. Der hochgewachsene schweigsame Tibeter machte sich mit seinem Ledersack jeden Morgen bei Tagesanbruch auf den Weg und kehrte erst in der Abenddämmerung mit einer Ladung Yakdung wieder zurück, was für einen ganzen Tag Arbeit einen kargen Erlös bedeutete. Doch auch mit nur einem einzigen Sack pro Tag hatte er eine der kleineren Hütten bis zur Decke mit Brennstoff für die Einsiedelei gefüllt.
    »Ich möchte ihm ja helfen, Rinpoche, aber ich weiß noch nicht,
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