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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel
Autoren: Eliot Pattison
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Inhalt respektvoll in ein Tongefäß. Als er dieses emporhob, kam ein hochgewachsener Mann mit schmalem traurigem Gesicht um die Ecke des nächstgelegenen Gebäudes. Er trug einen großen Ledersack über der Schulter, in dem sich Yakdung befand, den er heute gesammelt hatte und der ihnen als Brennstoff diente. Sein Name lautete Tenzin; er war schon bei Shans und Lokeshs Ankunft in der Einsiedelei gewesen. Ausdruckslos starrte Tenzin das Tongefäß an, legte eine Hand an sein gau , das silberne Gebetsamulett, das um seinen Hals hing, nickte dann und ging weiter auf die Hütte zu, in der er das Brennmaterial lagerte.
    »Lha gyal lo!« rief Shopo freudig gen Himmel. »Den Göttern der Sieg!«
    Er stand von der Decke auf, hielt das Gefäß sorgsam mit beiden Händen und brachte es in das niedrige Steinhaus, das ein halbes Dutzend Meditationszellen und die lhakang der Klause beherbergte. Shan und die anderen folgten ihm. Mit einer stummen Verneigung vor dem Buddha auf dem Altar an der Rückwand stellte Shopo das Gefäß auf ein Brett aus Zedernholz neben zehn gleichartige Tiegel und mehrere lange schmale Bronzetrichter. Dann wandte er sich mit ehrfürchtiger Miene dem vielfarbigen, mehr als zwei Meter durchmessenden Kreis in der Mitte des Steinbodens zu.
    Man nannte es den Vajrabhairava, den Diamantenen Schrecken; es stellte eines der seltensten aller Mandalas dar, jener komplizierten Sandbilder, die seit Jahrhunderten Bestandteil tibetischer Rituale waren. Es hatte Shan zunächst eingeschüchtert, als Gendun erklärte, daß sie ein Wesen anrufen würden, das zu den wildesten aller tibetischen Gottheiten zählte. Nun beobachtete er, wie die dropka innehielt und das Gesicht verzog, als sie das alte thangka des Diamantenen Schreckens sah, das Lokesh in der lhakang aufgehängt hatte. Manch einer wäre wohl auf den Gedanken gekommen, Shan und seine Freunde hätten einen Pfad der Dämonen und der Zerstörung eingeschlagen, aber Shan hatte gelernt, daß grausige Bilder wie dieses von den Lamas als Symbole höherer Wahrheiten genutzt wurden, und verstand es inzwischen, in der Darstellung nicht etwa Gewalt, sondern Hoffnung zu erkennen. Der Diamantene Schrecken war eine Inkarnation der Weisheit, die letztere annahm, um den Herrn des Todes herauszufordern, wenn dieser einen Menschen zu sich holen wollte, der noch keine Erleuchtung gefunden hatte.
    Anfangs hatten Shan und Nyma jeden Tag stundenlang zugehört, wie Gendun das komplexe Mandala Zentimeter für Zentimeter aus dem Gedächtnis beschrieb und gleichsam mit dem Mund nachmalte. Vor einem Monat hatten Shopo und Gendun dann schließlich mit Kreide ein verflochtenes Muster auf den Steinboden gezeichnet und damit die Grundlage für die weitere Arbeit geschaffen. Es war drei Jahrzehnte her, daß Gendun unter Anleitung eines neunzigjährigen Lama geholfen hatte, dieses besondere Bild anzufertigen, doch er konnte sich noch ganz genau an alle Einzelheiten erinnern. Das Mandala umfaßte Dutzende von Symbolen, die jeweils entstanden, indem man Sandkorn um Sandkorn langsam durch den chakpa rieseln ließ, den dünnen, knapp dreizehn Zentimeter langen Trichter. Jedes Bild, ja sogar jede Farbe war ein eigenes Symbol, und mit jedem Symbol war eine Lehre verknüpft. Shan betrachtete den sinnbildlichen Palast im Zentrum, der in vier kunstvolle Quadranten aufgeteilt war. Der weiße Osten enthielt das Rad des Dharma, der gelbe Süden wunscherfüllende Edelsteine, der rote Westen den Lotus der Reinheit und der grüne Norden ein brennendes Schwert.
    Die Freude der Tibeter verlieh Shan neuen Auftrieb. Nach einer Viertelstunde ging er zu dem Kreis aus Erde auf einem Felsvorsprung oberhalb der Gebäude, in dem er während der vergangenen Wochen viele Stunden in Meditation zugebracht hatte. Gendun würde wollen, daß er an diesem letzten Tag über die Lehre des Sandes nachsann, aber Shan fühlte sich auf einmal viel zu lebendig, viel zu froh über die Gewißheit, daß er nach einem Leben voller Zerreißproben endlich seinen Platz auf dieser Welt gefunden hatte.
    Er schaute den Wolken hinterher und ließ seine Zufriedenheit die Furcht zurückdrängen, die er im Angesicht des Steins verspürt hatte. Dann stellte er an sich eine ungewohnte Nervosität fest, weil heute abend nicht etwa er Genduns chakpa füllen würde, während der Lama das Mandala malte, sondern Gendun vielmehr den chakpa für ihn, damit Shan die Abbilder der Wolken und Berge am Rand des Kreises erschaffen konnte.
    Stundenlang hatten
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