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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel
Autoren: Eliot Pattison
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die Finger nur um den Griff gelegt, ohne den Abzug zu berühren. »Siehst du den Mann da drüben?« fragte er und nickte in Richtung Gendun, der immer noch mit dem Fluß sprach. »Meine Mutter lebt in dem Zelt bei der Einsiedelei. Sie nennt ihn den Lama des Reinen Wassers. Weißt du, warum? Nicht nur, weil die Mistkerle vom Büro für Religiöse Angelegenheiten ihm niemals etwas anhaben konnten, sondern weil er seine Gelübde schon vor mehr als fünfzig Jahren abgelegt hat, noch vor der Invasion. Bevor die Chinesen unser Land überfallen und für immer verändert haben. Er ist nie ins Exil gegangen, wurde nie gefangen. Seine Worte sind nicht vergiftet, sagt meine Mutter, denn sie entspringen einer Quelle, die die Chinesen nie entdeckt haben.«
    Der Mann sprach langsam und in ehrfürchtigem Ton, als habe er die Patrouille der Kriecher wieder vergessen. Hinter ihm knieten zwei der Hirten sich ans Flußufer und fingen an, Kieselsteine einzusammeln.
    »Ich brauche meine Waffe«, knurrte der purba , der immer noch ausgestreckt am Boden lag. Shan sah, daß er Angst hatte. Traditionell denkende Tibeter haßten die purbas bisweilen ebensosehr wie die Chinesen. »Wir müssen die Lamas von hier wegschaffen.«
    Der dropka schüttelte den Kopf. »Ich konnte nie etwas aus meinem Leben machen«, sagte er mit dumpfer Stimme. »Die Chinesen haben mich nicht zu Schule gehen lassen. Ich durfte nicht reisen. Ich konnte nie einen Beruf erlernen oder mir eine Anstellung suchen. Ich bin wie ein kleiner verkümmerter Baum, der nie wachsen wird, und er dort, der Lama des Reinen Wassers, er ist wie der hoch aufragende Überlebende eines Waldes, in dem alles andere dem Erdboden gleichgemacht wurde.«
    Er schaute lächelnd zu Gendun und wandte sich dann wieder dem purba zu. Seine Miene verhärtete sich. »Ich will dir verraten, wie wir Männer wie ihn beschützen«, sagte er und warf die Pistole ins schwarze Wasser. Die beiden Hirten am Ufer standen auf, traten an seine Seite und zogen Schleudern aus ihren Taschen. »Wir haben von anderen gehört, wie man das macht. Wir werden ihre Suchscheinwerfer zerschießen und einen Steinhagel auf sie niedergehen lassen. Mit etwas Glück werden sie uns gar nicht sehen. Chinesische Soldaten sind nachts ziemlich schreckhaft. Sie haben Geschichten über Dämonen gehört.«
    Er warf einen Blick auf das thangka , das Lokesh immer noch in der Hand hielt, und dann auf Shan. »Die Lamas müssen das Gefäß füllen«, sagte er zu dem purba , »und danach begleitest du sie zurück. Mein jüngerer Bruder kennt den Weg.«
    Er deutete auf den vierten Nomaden. »Falls wir die Patrouille nicht aufhalten können, weißt du bestimmt am besten, wie man den Soldaten entkommt.«
    Als der Mann die Schleuder hob, zitterte seine Hand. »Erneuert den Gott«, flüsterte er Shan zu. Dann verschmolzen er und seine Begleiter mit den Schatten.
    Während Shan dem purba auf die Beine half, blickte dieser den Nomaden in die Dunkelheit hinterher, und auf seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Wut und Respekt. »Dieses Artefakt«, sagte er tonlos. »Ich habe gehört, es handelt sich bloß um ein kleines Stück Stein.«
    Die Ereignisse dieser Nacht gingen Shan während des langen Rückwegs zur Einsiedelei nicht mehr aus dem Kopf und beschäftigten ihn auch noch, als er sich ruhelos auf seinem Strohlager umherwälzte und vergeblich auf Schlaf hoffte. Kurz vor Tagesanbruch suchte er die lhakang auf, die heilige Stätte der Klause, und ließ sich mit übergeschlagenen Beinen vor dem Altar nieder. Darauf stand, flankiert von Butterlampen, ein rissiger hölzerner Buddha, vor dem ein gezacktes Stück Stein lag. Es war fünfzehn Zentimeter lang und besaß eine gekrümmte Oberfläche, in deren Mitte man einen verblaßten roten Kreis erkennen konnte, letztes Überbleibsel des dort einst aufgemalten Auges. Nur ein Stück Stein. Doch genau dafür hatten die dropkas letzte Nacht ihr Leben riskiert. Genau deswegen wurde laut Lokesh aus Shan ein Dämon, genau deswegen waren die purbas so verärgert, daß Shan und seine Freunde noch in der Einsiedelei verweilten, und genau deswegen hatten sie überhaupt erst solche Anstrengungen auf sich genommen, um Shan dorthin zu bringen.
    Er und Lokesh hatten sich auf dem Rückweg von einer Pilgerreise zum südwestlich gelegenen Berg Kailas befunden, waren dabei abgeschiedenen Pfaden gefolgt und hatten manchmal sogar gewagt, sich für ein oder zwei Stunden von einem Lastwagen in Richtung Zentraltibet
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