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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel
Autoren: Eliot Pattison
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Gendun zu, als wolle er noch einmal versuchen, ihn wegzuziehen, doch ein Nomade mit Schaffellweste trat vor und hob warnend eine Hand.
    »Habt ihr auch nur die geringste Vorstellung davon, wie gefährlich das ist?«
    Der purba ballte und öffnete fortwährend die Fäuste. Er schien es mit ihnen allen gleichzeitig aufnehmen zu wollen. »Niemand hat uns davor gewarnt, daß ihr so leichtsinnig durch die Berge laufen würdet. Ihr könntet alle im Gefängnis landen. Und wofür? Man kann die Chinesen nicht mit Sand und Gebeten bekämpfen.«
    Lokesh stieß ein heiseres Lachen aus. »Ich kenne die chinesischen Gefängnisse«, sagte der alte Tibeter. »Manchmal sind Sand und Gebete der einzige Weg.«
    Der purba musterte Shan mit wütendem Blick. »Du bist der berühmte Chinese, der Tibetern aus der Klemme hilft. Du weißt es besser und läßt es dennoch zu.«
    Shan sah zu Gendun und Shopo hinüber. »Falls diese Lamas darum bitten würden, daß ich mir Steine in die Taschen stopfe und mich in den Fluß stürze«, sagte er dann leise, »würde ich mich bei ihnen bedanken und hineinspringen.«
    »Lha gyal lo« , flüsterte der dropka mit der Weste, als wolle er Shan anspornen.
    Lokesh berührte den Krieger am Arm. »Wenn man noch so jung ist, fällt es schwer, diese Dinge zu verstehen. Du solltest mit uns zu der Einsiedelei zurückkehren und es mit eigenen Augen sehen.«
    »Im Gegensatz zu Drakte befolge ich meine Befehle«, herrschte der Mann ihn an. »Ich werde anderswo gebraucht.«
    Lokesh hielt die Bambusröhre hoch. »Dann sieh es dir jetzt an«, sagte er und zog eine aufgewickelte Stoffbahn aus dem Behälter. Als Lokesh sie entrollte, erkannte Shan, daß es sich um ein altes thangka handelte, eines der Stoffgemälde mit Motiven des tibetischen Buddhismus.
    Der purba richtete die Lampe auf das Gemälde, verzog das Gesicht und wich einen Schritt zurück. Einer der dropka -Wächter stöhnte laut auf. Es war das von Schwertern, Speeren und Pfeilen umrankte Abbild eines grimmigen Dämons, um dessen Stierkopf eine Kette aus menschlichen Schädeln hing und der einen Kelch voller Blut hielt. Die abgezogenen Häute der Opfer lagen zu seinen Füßen. Lokesh betrachtete die Darstellung mit zufriedenem Lächeln und winkte den purba näher heran.
    »Sieh genau hin«, sagte der alte Tibeter und wies auf den Kopf der furchteinflößenden Gestalt. »Das ist es, was wir tun. Auf diese Weise gewinnen wir, ohne Gewalt anzuwenden. So wird das Artefakt zurückgebracht, und so wird diese Gottheit erneuert. Denn dies ist es, was aus ihm wird.«
    »Aus wem?« fragte der purba , dessen zornige Stimme inzwischen auch leicht verwirrt klang.
    Shan glaubte im trüben Licht so etwas wie Überraschung auf Lokeshs Antlitz wahrzunehmen, als wäre die Erklärung ganz offensichtlich. Dann deutete der alte Tibeter von dem schädelbekränzten Dämon auf Shan. »Aus unserem Freund. Unserem Shan.«
    Der Bann dieser Worte ließ den purba und die dropkas verstummen, und sie alle starrten Shan verunsichert an. Shan hingegen suchte in Lokeshs Miene nach einer Antwort, aber sein Freund lächelte lediglich erwartungsvoll zurück, als habe er Shan ein großes Geschenk gemacht.
    Plötzlich zerriß ein weiterer verzweifelter Schrei die Stille. Der Posten kam hektisch den Abhang heruntergerannt. »Eine Patrouille! Kriecher!« rief er. Damit waren die Soldaten des Büros für Öffentliche Sicherheit gemeint. Der purba und Shan liefen zur Kammlinie hinauf und erspähten von dort aus einen Mannschaftswagen, der sich noch einen knappen Kilometer entfernt befand und langsam in ihre Richtung kam.
    »Dieser Hubschrauber hat uns entdeckt«, sagte der purba. »Letzten Monat haben sie Infrarotgeräte benutzt, um einen alten Eremiten aufzuspüren, der nur nachts seinen Unterschlupf verließ, um zu beten.«
    Unten am Fluß hatten drei der dropkas sich im Halbkreis vor den Lamas aufgestellt, als wollten sie den Kriechern mit ihren Knüppeln entgegentreten. Der vierte, der Mann mit der Schaffellweste, stand ein Stück abseits und starrte in das schwarze Wasser. Als der purba zielstrebig auf die Lamas zuging, fuhr der Hirte herum, stürzte sich auf ihn und stieß ihn zu Boden. Dann sprang er genauso abrupt wieder zurück. In seiner Hand lag eine große Automatikpistole.
    »Du Narr!« zischte der purba. »Wir müssen sie wegbringen! Wir können uns nicht auf einen Kampf mit den Kriechern einlassen!«
    Beschämt blickte der Nomade auf die Pistole. Er hielt sie sehr unbeholfen und hatte
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