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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel
Autoren: Eliot Pattison
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beginnen. Er ließ zunächst den sandgefüllten chakpa und dann den leeren Trichter sinken, zog sie jedoch gleich wieder weg. Seine Hände zitterten.
    Niemand sagte ein Wort. Shan sammelte sich einen Moment lang, indem er den Palast im Zentrum des Kreises anstarrte, wo Weisheit und Mitleid herrschten. Mit ruhigeren Händen klopfte er behutsam gegen den Sand- chakpa und ließ einen weißen Faden auf den äußeren Rand des Mandalas herabrieseln. Das Klopfen seiner Metalltrichter verwandelte sich in eine winzige gedämpfte Glocke, ein Geräusch, das untrennbarer Bestandteil des allnächtlichen Rituals geworden war, und jeder Schlag kündete von einigen weiteren Samenkörnern, die in das von den Lamas geschaffene kleine Universum gepflanzt wurden.
    Sobald Shan seine Aufgabe beendet hatte, nickte er Nyma zu, die nun das Muster fortführen und zinnoberroten Sand in Form eines Baumes hinzufügen würde. Dann stand er auf und trat von dem Kreis zurück, immer darauf bedacht, über den zarten Sandbildern nicht zu heftig zu atmen. Als er sich umdrehte, sah er, daß neben Lokesh ein Fremder hockte und leise auf ihn einredete. Der Mann trug eine auffallend fleckige Schaffellmütze und eine chuba , den dicken Schaffellmantel, der typisch für die Nomaden dieser kargen Landschaft war, aber er gehörte nicht zu den dropkas , die ihr Lager oberhalb der Klause aufgeschlagen hatten.
    Plötzlich weiteten sich die Augen des Fremden. Er stand auf und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger anklagend auf Shan. Bei dieser Bewegung öffnete sich die chuba , und an seinem Gürtel war ein langes Messer zu sehen. Lokesh packte die Gebetskette fest zwischen zwei Fingern, um die gegenwärtige Stelle nicht zu verlieren, sprang auf und drückte mit seiner freien Hand den Arm des Mannes herunter, während Shan näher kam.
    »Ihr seid verrückt«, murmelte der Fremde. Als er sich von Lokesh losreißen wollte, fiel die Fellmütze herunter.
    Sein Kopf war vollständig kahlgeschoren. Shan musterte das markante, grobknochige Gesicht des Fremden, die glatte Kopfhaut und den langen dünnen Schnurrbart. Dieser Mann war keiner der Hirten, sondern ein golok aus dem fernen Nordosten Tibets und somit Angehöriger des wahrscheinlich wildesten aller tibetischen Völker. »Er ist Chinese!« schimpfte der golok laut.
    Shan drehte sich besorgt zu dem Mandala um. Nyma und die Lamas ignorierten den Mann.
    »Das ist Shan«, widersprach Lokesh und hielt den Arm des Mannes weiterhin fest, als fürchte er, der golok würde Shan angreifen. »Er ist der Auserwählte.«
    Der Eindringling sah kurz den alten Tibeter an und nahm Shan dann genauer in Augenschein. Sein Zorn wich offener Verachtung. »Der Auserwählte, der den Gott erneuern wird? Er ist ein Krimineller. Ein unbarmherziger Kerl, wie es heißt. All die anderen Chinesen hassen ihn.«
    Lokesh warf Shan einen entschuldigenden Blick zu. »Kein Krimineller, sondern ein Häftling. Vier Jahre lao gai« , fügte er hinzu und bezog sich dabei auf die Zwangsarbeitslager Pekings. Bis letztes Jahr hatten Shan und Lokesh beide in der 404. Baubrigade des Volkes arbeiten müssen, einer der berüchtigtsten Strafkolonnen Chinas.
    »Der Chinese«, sagte der golok und ließ seine Augen über Shans vielfach geflickten Mantel wandern, über die ausgetretenen Arbeitsstiefel und das ausgefranste Ende des Vinylgürtels, das an seiner Taille hervorragte, »sieht aus wie ein Krämer. Ein verkrachter Krämer«, fügte er mit einem Hohnlächeln hinzu und betrachtete dann stirnrunzelnd die anderen Anwesenden in der Kammer. »Es sollten purbas sein, echte Krieger. So werdet ihr es niemals schaffen. Ihr habt ja keine Ahnung!« sagte er überheblich und wandte sich wieder Shan zu. »Du könntest auf hunderterlei Weise sterben. Bessere als du haben es versucht und ihr Leben verloren.«
    Shan hielt dem Blick des golok ruhig stand. Falls dieser Mann, der mit Sicherheit kein purba war, von ihren geheimen Absichten erfahren hatte, wie vielen anderen mochte dann wohl noch bekannt sein, daß sie das gezackte Auge zurückbringen würden? Wieso schien er mehr zu wissen als Shan? Und warum hatten die dropkas , die die Gebäude bewachten, ihn durchgelassen?
    Lokesh seufzte. »Ja«, sagte er, als habe er derartige Warnungen zuvor schon gehört. Er nahm den Mann bei der Hand und zog ihn mit sich. »Du solltest den heiligen Kreis studieren«, forderte er ihn mit nachsichtiger Stimme auf. Die Worte klangen wie der Ratschlag eines Heilers, und Shan gelangte zu
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