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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel
Autoren: Eliot Pattison
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Zeitgefühl löste sich auf. Tenzin entzündete schweigend neue Weihrauchstäbchen. Einen Moment lang prasselte Hagel auf das Blechdach. Lokesh sagte unentwegt das Mantra auf, bis es nicht mehr zu sein schien als lediglich eine weitere Klangfarbe des Windes. Der golok ließ sich mit übergeschlagenen Beinen vor dem Altar nieder und neigte und drehte fortwährend den Kopf, als wolle er einen besseren Blick auf das Auge erhaschen.
    Shan ließ sich durch das seltsame Verhalten des golok nicht aus der Ruhe bringen. Er verspürte eine unvermutete Wärme und versuchte sich zu entsinnen, wann er zum letztenmal eine solche Zufriedenheit empfunden hatte. Das mußte Jahre vor seiner lao-gai-Haft gewesen sein, vor seiner Beförderung zum Generalinspekteur des Wirtschaftsministeriums, vor seiner Heirat mit einer leitenden Parteifunktionärin und der Arbeit für die Regierenden in Peking. Dies war eine wichtige Nacht, begriff er, eine Art Initiation, eine Nacht der Erkenntnis. Eine Nacht, so würde Lokesh es ausdrücken, in der sie alle sich ihren inneren Göttern nahe fühlten. Eine Nacht, in der er voller Überzeugung zu sich selbst sagen konnte, daß von allen Orten des Universums genau dieser hier für ihn bestimmt war, hier zwischen den Lamas, die vergessen konnten, daß seine chinesischen Landsleute eine Million Tibeter ermordet hatten, daß sie nach fünfzig Jahren noch immer in einem besetzten Land lebten; die all das Leid vergessen konnten, weil hier in dieser abgeschiedenen, vergessenen, windgepeitschten Einsiedelei ein paar ehrerbietige Seelen geduldig an der Vollendung eines Mandalas arbeiteten, das dem Mitleid und der Weisheit gewidmet war. Und nun, als sie mit dem letzten Durchgang der chakpa - Malerei begannen, brach für sie die perfekte Stunde dieser perfekten Nacht an.
    Als Shan aufblickte und in Genduns Augen sah, stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Vielleicht hatte er zuviel in diese merkwürdige Rückgabe des Auges hineingedeutet, vielleicht ging es nur darum, Momente wie diesen zu bewahren, die Lamas und ihre Traditionen zu schützen, die Saat zu erhalten. Auf einmal konnte er sich nichts Wichtigeres auf der Welt vorstellen, als der Gottheit das Auge zurückzubringen.
    Gendun neigte den Kopf in Richtung der Außenwand und lauschte. Der Wind wehte nun heftiger und rief einen langgezogenen dumpfen Ton von eigenartig metallischer Beschaffenheit hervor. Shan spürte eine hastige Bewegung, wandte den Blick von dem Mandala ab und sah, daß der golok sich aufrichtete und wachsam zur Tür schaute. Dann ertönte wieder der lange dumpfe Ton, diesmal etwas tiefer. Aus dem Korridor hörte Shan eilige Schritte. Der alte Nomade, der die lhakang bewachte, lief nach draußen.
    Der Hirte und seine Schwester wechselten sich ab: Einer von ihnen befand sich stets in der Einsiedelei, der andere auf dem Berggrat im Westen, oberhalb des Tals, bewaffnet nicht etwa mit einem Gewehr, sondern einem alten verbeulten dungchen , einem der langen, spitz zulaufenden Hörner, wie sie in Tempeln gebräuchlich waren. Der golok stand auf und rannte zur Tür hinaus. Seine Hand lag auf dem Griff des langen Messers. Shan erhob sich und machte einen zögernden Schritt in die gleiche Richtung. Lokesh hielt mit dem Mantra inne und neigte lauschend den Kopf. Dann warf er Shan einen matten Blick zu und fuhr mit dem Gebet fort, allerdings ein wenig schneller als zuvor. Das Horn ertönte aufs neue, diesmal noch drängender, aber die Lamas ließen durch nichts erkennen, ob sie es gehört hatten. Womöglich waren die Kriecher hierher unterwegs. Sie könnten Maschinengewehre mitbringen. Sie würden ihre Schlagstöcke und Handschellen dabeihaben, um Verdächtige in ein lao-gai -Lager zu verfrachten, wo Gendun und Shopo als Mönchen ohne staatliche Lizenz eine Mindeststrafe von fünf Jahren gewiß war.
    Nichts davon konnte die Lamas ihres freudigen Moments berauben. Ihr Mandala war beinahe vollendet.
    Der golok kehrte zurück. Er atmete schwer, packte Shopo an der Schulter und wollte ihn wegziehen, doch der Lama schien sich keinen Millimeter von der Stelle zu rühren, so als hätte er in den steinernen Bodenplatten der lhakang Wurzeln geschlagen. Der golok murmelte wütend etwas vor sich hin und versuchte es bei Gendun, wiederum ohne Erfolg. Shan ging bis zur Tür und horchte auf das metallische Rattern eines Helikopters oder das Hämmern von Kriecherstiefeln. Ihn würde man nicht als illegalen Mönch verhaften, sondern als lao-gai-Flüchtling, denn
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