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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel
Autoren: Eliot Pattison
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wie.«
    Gendun nickte. »Mitunter fürchte ich, daß er den Weg aus den Augen verliert.«
    Der Lama meinte damit nicht, daß Tenzin sich verirren könnte, sondern bezog sich auf die Gefahr, während einer Wanderung durch die gefährliche Landschaft in tiefe Meditation zu versinken und sich der unmittelbaren Umgebung nicht mehr bewußt zu sein. Mönche, die allein in den Bergen unterwegs waren, brachen sich auf diese Weise bisweilen ein Bein oder gar den Hals.
    Shan sah seinen Lehrer nachdenklich an. Gendun wußte etwas über den melancholischen Mann, das ihm verborgen geblieben war, oder spürte zumindest etwas, das Shan nicht registriert hatte. Tenzin war ihnen bei dem Mandala nie zur Hand gegangen, hatte dessen Erschaffung aber voll kindlicher Faszination verfolgt, Gendun und Shopo unentwegt mit Tee versorgt und alle Lampen nachgefüllt, sobald die dropkas Häute voller Butter brachten. Obwohl Shan nie gesehen hatte, daß er meditierte oder sich für das interessierte, was die Tibeter den Buddha in ihm nennen würden, mußte er nun an den täglichen Sack Dung denken. Den Sack zu füllen nahm zwei oder drei Stunden in Anspruch. Verbrachte Tenzin den Rest des Tages auf einem hohen Grat und meditierte? Einmal, erinnerte Shan sich, nachdem Shopo genau beschrieben hatte, wie man mit den Fluß -nagas sprach, war Tenzin mit schwarzem Sand für das Mandala zurückgekehrt und hatte diesen ehrfürchtig Gendun übergeben. Bei einer anderen Gelegenheit hatte Shan ihn mitten in der Nacht allein am Rand des Mandalas vorgefunden, die hohle Hand über das Abbild eines Einsiedlermönchs ausgestreckt, die Augen voller Tränen.
    »Wenn ihm eine Zunge wächst, wird es besser«, sagte der Lama. »Vielleicht noch ein paar Monate.«
    So beschrieb Gendun das Schweigen solcher gebrochenen Männer, und so hatte er in den ersten Wochen nach dessen Zeit im Gulag auch Shans dunkle Stille bezeichnet. Wenn der Mann irgendwann den Funken fand, der vor der Gefangenschaft und der Marter des Arbeitslagers einmal Tenzin gewesen war, würde diese Lebenskraft auch seine Zunge erreichen, und er wäre bereit, mit der Welt zu sprechen. Eventuell, dachte Shan, war das der Grund, aus dem Gendun ihn bat, sich um Tenzin zu kümmern: weil einst auch Shan, bevor er die Lamas traf, nur aus stummen, verwirrten Fragmenten bestanden hatte.
    Siebe den Sand, um die Saat des Universums zu finden. Die Worte hallten in Shans Gedächtnis wider, als er vier Stunden später neben dem Mandala saß, mit dem Gefäß voll weißem Sand zu seinen Füßen. Die Sonne war untergegangen, und die letzte Nacht der Arbeit an dem Mandala hatte begonnen. Eine Fingerspitze berührte seinen Arm, leicht wie eine Feder.
    »Es ist soweit«, sagte Gendun, zog einen chakpa aus dem Ärmel seines roten Gewands und streckte ihn Shan entgegen.
    Shan zögerte. Aus dem dunklen Korridor, der zu der Kammer führte, drang ein Stöhnen. Es war der Wind, der mit dem bröckelnden Mauerwerk der Einsiedelei spielte und einen schaurigen Gleichklang mit dem Mantra erzeugte, das leise über Lokeshs Lippen drang. Der alte Tibeter saß neben Tenzin hinter ihnen an der Wand. Shan hob langsam die Hand und nahm den schmalen chakpa , der bereits mit dem weißen Sand gefüllt war. Dann reichte Gendun ihm noch einen zweiten, leeren Trichter, mit dessen Hilfe der Sand aus dem ersten chakpa herausgeklopft wurde. Shans Blick schweifte zu dem kleinen Holzaltar und dem gezackten Auge ab, dann wieder zurück zu dem Lama, verbunden mit einem Anflug von Schuldgefühl. Das Auge war da, allzeit wachsam. Doch Shan hatte von Gendun Disziplin gelernt, und das beinhaltete, daß er nicht an das geheimnisvolle Auge denken, sondern sich statt dessen in das Mandala vertiefen sollte. Seit jenem ersten Tag in der Einsiedelei hatte niemand mehr über das Auge gesprochen, abgesehen von Lokesh, der Shan eines Nachts unauffällig zugeflüstert hatte, er brauche sich keine Sorgen zu machen, denn wohin auch immer Gendun und der Stein sich begeben mochten, es würde sich um eine heilige Stätte handeln. Lokesh schien die bevorstehende Reise als eine Pilgerfahrt zu betrachten, in deren Verlauf heilige Männer einen heiligen Stein zurückbringen würden. Seiner Überzeugung nach würde die Welt sich notfalls teilen, um solchen Pilgern einen friedvollen Pfad zu bereiten.
    Shan sah, daß Nyma soeben eine Flammenspur entlang des äußeren Rings abschloß, und beugte sich vor, um mit einer hauchdünnen Linie aus weißem Sand den Umriß einer Wolke zu
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