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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz
Autoren: Urs Richle
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werden. Sie kommt aus dem Norden, und seit ein paar Jahren hat sich ihr Dialekt in ein eigenes Idiom verwandelt.« Néandaz bückte sich an Jean-Louis’ Stelle zu seiner Mutter hinunter und begann zu übersetzen.
    Sie kenne den Namen Ana de la Tour, das Schachgenie aus Nizza, eine kleine, zierliche Frau, die vor einigen Jahren von einem Pariser Hofbeamten aus dem Hospice de la Charité entführt worden sei. Unter Anwendung von mehreren Koch- und Gärungsprozeduren in einem
Gemisch aus Alraune, verschiedenen Salzen, Ölen und etwas geriebenem Pferdehuf soll er sie bei lebendigem Leib in einen Automaten eingebaut haben. Dieser Automat, in dessen Inneren sich ein aus dem zierlichen Mädchen gebildeter Homunkulus ans Werk gemacht habe, könne nicht nur die schwierigsten Rechenaufgaben lösen, sondern beherrsche auch das Schach- und das Musikspiel und gebe auf jede Frage Rede und Antwort, ganz so wie ein intelligenter Mensch. Die Erscheinung dieses Automaten sei so überzeugend, aber auch so furchterregend, dass die Leute, denen er vorgeführt werde, vor Panik die Flucht ergriffen. Es werde gemunkelt, dass dieser Automat sogar laufen könne und eines Tages aus eigenen Stücken seine Antriebsfeder selbst aufgezogen und sich wie ein Golem gegen seinen Erbauer und Meister erhoben, diesen niedergeschlagen und sich auf und davon gemacht habe, um erst im Norden von Paris, dann in Lyon und schließlich in Südfrankreich sein Unwesen zu treiben. Jeder, der dem Golemautomaten je begegnet sei, sei von diesem erst durch ein liebreizendes Musikspiel bezirzt, dann zu einem diabolisches Schachspiel eingeladen und schließlich in ein scheußliches Streitgespräch verwickelt worden, welches nur zu oft mit Totschlag geendet habe. Zwei Brüder des Hermetischen Ordens der Universalen Bauherren in Nizza hätten es schließlich geschafft, das wütende Automatenmonster in der Nähe des Hospice de la Charité in Nizza mit viel Rauch, etwas Myrrhe und unter Anwendung eines mit dem Blut eines Unschuldigen bestrichenen Kruzifixes zu bändigen und niederzustrecken. Was sie im Innern des Automaten vorgefunden hätten, sei noch erstaunlicher als die Gräueltaten der Maschine selbst. Statt des erwarteten
Homunkulus hätten die Glaubensbrüder zwischen den Rädern und Schnüren nichts weiter gefunden als die sterblichen Überreste eines zierlichen Mädchens, welches niemand anders gewesen sei als die eben genannte Ana de la Tour, das erstaunliche Schachgenie, das im Jahr 1783 auf mysteriöse Weise aus dem Hospice de la Charité entführt worden sei.
    Der Orden der Universalen Bauherren in Nizza sei bekannt dafür, dass seine Adepten unter Anwendung eines Athanors durch Destillierung, Sublimierung oder Kondensierung versuchten, aus unedlen Metallen Gold herzustellen. Es heiße sogar, dass sie im Besitz des Lapis Philosophorum seien und mittels Ausschank des Aurum Potabile jede Krankheit heilen könnten. Es liege deshalb auf der Hand, dass die Brüder des Ordens den gefährlichen, golemhaften Automaten nicht nur zum Wohl der Gesellschaft überwältigt und in ihre Gewalt gebracht hätten, sondern weil sie sich ganz speziell für dessen Innereien interessierten. Nicht nur einem von ihnen soll es inzwischen gelungen sein, unter der Beifügung von etwas Knochenmehl der Gebeine von Ana de la Tour und unter Befolgung der Anweisungen von Theophrastus Paracelsus in seiner Schrift De generationibus rerum naturalium , einen Homunkulus herzustellen. Nämlich dass das Sperma eines Mannes im verschlossenen Cucurbiten per se mit der höchsten Putrefaction, ventre equino, auf vierzig Tag putreficiert werde, oder so lang, bis es lebendig werde und sich bewege und rege, was leicht zu bemerken ist. Nach dieser Zeit wird es einem Menschen einigermaßen gleichsehen, doch durchsichtig, ohn ein Corpus. Wenn es nun nach diesem täglich gar weislich mit dem arcano sanguinis humani gespeist
und bis auf vierzig Wochen ernährt wird und in steter gleicher Wärme ventris equini erhalten, wird ein recht lebendig menschlich Kind daraus, mit allen Gliedmaßen wie ein ander Kind, das von einem Weibe geboren wird, doch viel kleiner. Dasselbige nennen wir ein homunculum, und es soll hernach nit anders als ein ander Kind mit großem Fleiß und Sorg auferzogen werden, bis es zu seinen Tagen und Verstand kommt. Aufgrund der sehr geringen Menge Knochenmehls, die dieser Prozedur beigegeben werde, sollen sich die Überreste der Ana de la Tour noch immer beinah vollständig in den Händen des
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