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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz
Autoren: Urs Richle
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würde dies das Budget der Nachforschungen bei Weitem überschreiten. Aber die Gebeine der Ana de la Tour seien gut erhalten, aufgehoben an einem sicheren Ort und durchaus verhandelbar, wie Néandaz abschließend
bemerkte, es sei alles nur eine Frage des zu investierenden Kapitals.
     
    Jean-Louis hatte sich längst abgewendet und hörte nicht mehr zu. Die Vorstellung, auf welch grauenhafte Weise Ana umgebracht worden war, bohrten sich wie Würmer durch seine Gedanken, stachelten ihn auf, entfachten in seinem Kopf Brandreden gegen die Mörder, gegen den Reliquienhändler, gegen Montallier, gegen von Kempelen, gegen sich selbst und gegen alle Übeltäter dieser Welt, die im Namen irgendwelcher dubioser Wissenschaften Gräueltaten verübten. Er holte aus zu nicht enden wollenden Verurteilungen und Beschimpfungen, uferte aus zu Verdammnissen und Verwünschungen aller Personen und Umstände, die Ana, gewollt oder ungewollt, mit kalkulierter Absicht oder aus Dummheit in die Hölle gestürzt hatten. Und er verschonte sich selbst dabei nicht. Er zerfleischte sich innerlich dafür, sie im entscheidenden Augenblick aus der Kontrolle verloren und einem grässlichen Schicksal überlassen zu haben. Nur weil er diesen einen nun eingetretenen Fall nicht vorausgesehen und nicht bedacht hatte, war er bereit, jeden möglichen und unmöglichen Preis zu zahlen. Wenigstens symbolisch wollte er wiedergutmachen, was nicht wieder gutzumachen war. Die Vorstellung, dass die sterblichen Überreste seiner einstigen Geliebten in Chartres irgendwo in einem Keller lagen und darauf warteten, zu einer mehlförmigen Ingredienz für Quacksalber zerrieben zu werden, sprengte sein Herz und lähmte seinen Verstand.
    Jean-Louis war mit seinem ganzen persönlichen Vermögen nach Paris gekommen. Und nun bot er mehr als das
Doppelte, damit Néandaz ihn nach Chartres zu den Brüdern des Hermetischen Ordens der Universalen Bauherren führe und ihm jeden einzelnen der noch übrig gebliebenen Knochen von Ana liefere wie irgendein anderes seiner verwerflichen Produkte. Jean-Louis tat es aus purer Verzweiflung, aus dem Leiden an der Unmöglichkeit heraus, das, was offenbar geschehen war, nicht ungeschehen machen zu können, gefangen in der unerbittlich ablaufenden Zeit, ein Sklave der Geschichte, die er auf so unheilvolle Weise mitbestimmt hatte. Nun war es zu spät, so spät, dass nur noch Verzweiflung und Irrsinn regierten und Jean-Louis zum allerletzten Mittel griff, das ihn nicht nur den Verstand und das Leben, sondern auch die Ehre und das Gedächtnis der Nachwelt kostete.
     
    Zwei Wochen später saß Jean-Louis, der in den wenigen Tagen der äußersten Verzweiflung beinah vergreist war, zitternd und bebend vor Erregung in Chartres neben einer großen Holztruhe, welche er mit Néandaz’ Hilfe in die Herberge gebracht hatte, und zögerte, den Deckel anzuheben. Dem Händler hatte er beinahe sein gesamtes Vermögen ausbezahlt und ihn für die restlichen Zahlungen auf die folgenden Tage vertröstet. Néandaz hatte ihm geholfen, die Knochen aus dem Keller des Ordens zu rauben, da der Preis für die Gesamtheit der Reliquien von Ana de la Tour jegliche realistische Möglichkeit eines Angebots überstieg. Und da er nun auf gestohlener Ware saß, wusste er auch, dass seine Tage gezählt waren. Früher oder später würde man ihn und die so sehr begehrten Knochen finden, wohin er sich damit auch verstecken mochte, und die Geschichte würde weitergehen und kein Ende nehmen,
solange Ana de la Tour wieder und wieder in andere Existenzen und Materien überführt werden konnte. Ihr Geist und ihr Genie würden von all den Quacksalbern weiterhin und unaufhaltsam missbraucht werden für die abstrusesten und abscheulichsten Praktiken der Pseudowissenschaften, deren Machenschaften zu unterbinden Jean-Louis aufs Äußerste entschlossen war.
    Mehrere Tage und Nächte verbrachte Jean-Louis mit den in der Truhe verschlossenen Reliquien von Ana de la Tour in der Herberge, harrte aus und trauerte. Unendliche Stunden lang rieb er sich an der Unmöglichkeit auf, die Zeit zurückdrehen zu können, verwünschte, beschimpfte und bestrafte sich für all die angerichteten und unterlassenen Taten, für seine Blindheit und Dummheit, für all das Leid, das er mitverursacht hatte im naiven Glauben an eine absurde Rettung durch die Logik der Mechanik und die List der Technik.
    Sein Scheitern erschien ihm in Anbetracht des Inhalts der Truhe so niederschmetternd, dass Jean-Louis sich mehrere
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