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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz
Autoren: Urs Richle
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hing ein Messingschild mit der Aufschrift »Opus magnum - Livres«. Jean-Louis zog an der Glocke und trat ein. Einige Stufen führten in den Halbkeller mit ebenerdigen, schmalen Fensterluken hinunter. Ein süßlich-saurer Geruch griff seine Nase an. Der Raum war mit Büchergestellen so dicht verbaut, dass nur zwei enge Flure Zugang zu den hinteren Räumen boten. Überall lagen und standen in Leder gebundene Folianten. Papierstapel, Schachteln, Mappen und Karten verstellten den Weg.
    Nachdem Jean-Louis sich für den linken der beiden Flure entschieden hatte, stieß er im hinteren Teil des Raums auf einen über ein kleines, dünn beschriebenes Heft gebeugten alten, ungepflegten Mann. Langsam fuhr dieser mit einem Stift über die Wörter, als entzifferte er jeden Buchstaben einzeln. Jean-Louis grüßte, aber das alte Gesicht rührte sich nicht. Sein jahrhundertealter Blick verfolgte den Stift über den Buchstaben, das Einzige, was sich in diesem von Papier und Texten geschwängerten Raum bewegte. Jean-Louis blieb noch eine Weile stehen und betrachtete das kleine Spektakel, ließ seinen Blick über die Buchrücken und Papierstapel wandern, erheischte da und
dort einen Namen, ein Wort, einige nichtssagende Buchstaben. Er war gekommen, um die Wahrheit über Ana de la Tour zu erfahren, aber plötzlich zweifelte er daran, dass dies überhaupt möglich sein konnte. Der Auftraggeber und Besitzer des Ecrivain hatte ihn aus irgendeinem Grund zum Narren gehalten, hatte ihn mit falschen Versprechungen dazu gebracht, den Schreibautomaten zu reparieren, und er hatte ihn alles stehen und liegen lassen und nach Paris gelockt. Und nun stand Jean-Louis hier zwischen all dem alten Papier vor einem verrückten Schriftenhändler und wusste nicht, weshalb. Kein Buch, kein Pergament, keine Druckerschwärze und keine Tinte konnte ihm je wiederbringen, was er verloren hatte, und Jean-Louis ärgerte sich, dieser idiotischen Idee gefolgt, der Versuchung, Verlorenes zurückzuholen, erlegen zu sein.
    Die Büchergestelle, die Papierberge, all das geschriebene Geschwafel um ihn herum schien ihm plötzlich wie Hohn und Spott auf seine naive Kurzsichtigkeit, seine versessene Wissensgier, seine sträfliche Dummheit. Jeder Satz, jeder Buchstabe bezichtigte ihn des Lugs und des Betrugs sich selbst gegenüber, und er wünschte, dieser ganze unheilvolle Laden möge noch heute von Buch- und Holzwürmern zerfressen, zermahlen und zu Staub zerrieben werden. Sogar den einzigen und letzten Zeugen, den Buchhändler Néandaz, wünschte er zum Teufel und drehte ihm bereits den Rücken zu, als dieser sich mit einer hellen, leicht kratzenden Stimme zu Wort meldete.
    »Was kann ich für Sie tun?«, fragte er in einem etwas zu freundlichen Ton.
    Widerwillig drehte Jean-Louis sich nach dem kauzigen Händler um.

    »Schickt Sie jemand?«
    »Nein«, sagte Jean-Louis, ohne zu überlegen, »das heißt doch, aber ich komme in eigener Angelegenheit.«
    »Ja, so ist das meistens. Womit kann ich Ihnen denn dienen?«
    Noch einmal verwünschte Jean-Louis sich und die Welt und diesen Laden und all das Papier und diesen alten, ausgetrockneten Buchstabenfresser mit seinem süffisanten, gemeinen Lächeln. Aber so fest entschlossen er auch war, das ganze Unternehmen abzubrechen, hinauszustürzen und die Flucht zu ergreifen, irgendetwas hielt ihn fest. Er stand vor dem alten, buckligen Schriftenhändler, von dem er nicht wusste, ob er sein Erlöser oder sein Henker sein würde. Ein Botschafter aus einem unheiligen Land war er auf jeden Fall. Es reichte, das Wort »Alkahest« auszusprechen, um den Kauz aus seiner Reserve zu locken. Das zerknitterte Gesicht des Buch- und Schriftenhändlers Néandaz hellte sich schlagartig auf, seine Augen funkelten, und die Pupillen weiteten sich.
    Und nun begann eine ausführliche Auseinandersetzung in mehreren Etappen über die Substanz, die alle Stoffe, sogar Gold, aufzulösen vermochte, welche Paracelcus entdeckt zu haben behauptete und der dieser den Namen »Alkahest« gegeben habe. Seither sei die Substanz jedoch nicht wieder in Erscheinung getreten, weder in natürlicher Form noch durch künstliches Mischen von anderen Substanzen. Während Néandaz sprach, führte er Jean-Louis in die verborgenen Gemächer, zu den eigentlichen Machenschaften und geheimen Handelsgütern der Buchhandlung Néandaz. Mehrere Folianten, Bücher- und Papierstapel mussten zur Seite geschoben und umgeschichtet werden,
um durch eine kleine Tür in einen engen Flur und von
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