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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz
Autoren: Urs Richle
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Ordens der Universalen Bauherren befinden. Eine Prise dieses Knochenmehls befinde sich in der zweituntersten Schublade des rechten Ingredienzienschranks.
    Die alte Frau hatte ihren Sermon beendet und die Augen wieder geschlossen. Néandaz hatte schnell und flüsternd übersetzt, so dass Jean-Louis sich nah zu ihm hinunterbücken musste. Die Alte war nun wieder in ihren unansprechbaren Zustand zurückverfallen, und Néandaz begab sich hinter den Tisch, zog die von seiner Mutter angegebene Schublade auf und holte eine kleine Puderdose hervor. Vorsichtig klappte er den Deckel auf und legte sie auf den Tisch.
    Jean-Louis betrachtete das weiße Pulver in der kleinen Dose, welches, wenn er tatsächlich glauben wollte, was die alte Frau eben gerade erzählt hatte, wenn es tatsächlich stimmen sollte, dass die einzige Geliebte seines kurzen Lebens das Opfer von fanatischen Alchemisten und Quacksalbern geworden war, ein Teil von Ana de la Tour darstellte. Nicht in seinen schlimmsten Träumen hätte er vermutet, Ana auf so makabre Weise wiederzubegegnen.
In dieser kleinen Puderdose war also ein Teil von ihr, abgezweigte Splitter ihrer Existenz, zerrieben zu feinen Staubkörnern, zu einem Elixier, einem Stoff von magischer Kraft, die Quintessenz ihres Genies. Beinah wollte er mit einem Finger in die Dose greifen, dann wich er jedoch zurück, so als verhinderte er im letzten Augenblick, sich an diesem teuflischen Zeug die Seele zu verbrennen. Er wandte sich ab.
    »Und wo befinden sich die Verbrecher?«, fauchte er zitternd vor Erschütterung.
    »Das kann ich gerne für Sie herausfinden«, hechelte Néandaz eifrig, »gegen entsprechende Bezahlung natürlich!«

4
    Fünf geschlagene Wochen und drei Tage verbrachte Jean-Louis in der Kammer einer kleinen Herberge in der Nähe der Bastille, machte Spaziergänge, überquerte die Seine wieder und wieder in der Hoffnung auf Einsicht und Erklärung und schürte damit nichts anderes als Befürchtungen und unerfüllbare Sehnsüchte. Er schlief kaum, wusch sich nicht mehr, aß nichts, ernährte sich von Wein und Luft, sprach mit niemandem, wurde zum Schatten seiner selbst. Er wollte und wollte nicht glauben, was die Alte erzählt hatte, und doch blieb ihm keine andere Wahl, als die Spur bis an ihre Wurzeln zu verfolgen, die dort sein würden, wo er selbst Ana in die vermeintliche Freiheit entlassen hatte, im Park von Versailles und in der Scheune in einem Vorort von Paris, am Tag jenes Spiels gegen den Kempelen’schen Schachtürken.
    Am neununddreißigsten Tag des Ausharrens und verzweifelten Wartens klopfte der Gauner Néandaz an seine Kammertür und überbrachte ihm, was er durch komplizierte und teure Ermittlungen hatte in Erfahrung bringen können. Die sterblichen Überreste, das heißt die Knochen von Ana de la Tour, befänden sich tatsächlich und nach wie vor im Besitz des Hermetischen Ordens der Universalen Bauherren. Der Orden habe seinen Hauptsitz in Nizza, und dort solle Ana vor drei Jahren von den
Ordensbrüdern für ein obskures Ritual auf brutale Weise umgebracht worden sein. Allerdings seien ihre Gebeine inzwischen nach Chartres umgelagert worden, von wo aus sie zermahlen und in winzigen Puderdosen vermarktet würden. Die Preise sollen aufgrund der erstaunlichen Resultate, die das Knochenmehl zu bewirken vermöge, in astronomische Höhen geklettert sein. Natürlich sei die Golemgeschichte des Automaten eine um die Reliquien der Ana de la Tour gerankte Legende. Vielmehr sei sie von zwei Räubern aus den Fängen des Pariser Hoforgelbauers Montallier entführt worden, und dies im Auftrag eines österreichischen Ingenieurs, der die junge Ausnahmeschachspielerin für die Konstruktion eines neuen Rechenautomaten einzusetzen gedachte. Schließlich soll er davon jedoch abgelassen und sie an den Orden der Universalen Bauherren verkauft haben, lebend und bei vollem Bewusstsein. Dies wiederum habe es den Bauherren, deren oberstes und letztes Ziel die künstliche Erzeugung eines menschlichen Wesens sei, ermöglicht, die Transmutation eines lebenden Körpers in einen anderen zu erforschen, und zwar erfolgreich, denn nach bereits vier Monaten habe sich der Körper der jungen Frau in sich und ohne jeglichen natürlichen Zeugungsakt von selbst fortgepflanzt. Über die Resultate, die mit dem bei lebendigem Leib aus dem Bauch der jungen Frau herausgeschnittenen Fötus erzielt worden seien, herrsche allerdings absolute Schweigepflicht, die zu brechen mit dem Tod bestraft würde. Im Übrigen
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