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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz
Autoren: Urs Richle
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den Automaten der lebensgroßen, künstlichen Marie Antoinette eingebaut hatte. Im untersten Teil der Spieluhr ließ Jean-Louis zu jeder Stunde zwei Figuren, eine weiß gekleidete, elegante Dame und einen in türkischer Tracht gekleideten Mann, an einem Tisch sitzend erscheinen wie zwei Jaquemarts, welche jedoch nicht, wie auf Turmuhren üblich, die Stunde auf eine Glocke schlugen, sondern sich gegenseitig je einen Schachzug lieferten, um immer pünktlich zu Mitternacht eines der dreihundertfünfundsechzig gespeicherten Spiele mit einem Schachmatt gegen Schwarz zu beenden.
     
    Neben den oberflächlichen Anspielungen und Symbolen, die Jean-Louis nicht ohne bitteren Humor in die Spieluhr einbaute, war es vielmehr die Verarbeitung der Gebeine, der feine Knochenstaub, der ihm durch die Finger rieselte, was seinem Bewusstsein und seinen Gedanken jegliche Logik, jeglichen nachvollziehbaren Verstand raubte. Wie zur Härtung von Holz verwendete Jean-Louis erst einen weicheren Lack, den er aus gestoßenem Bernstein, etwas Harz vom Terpentinbaum, Balsamterpentin, Gummikopal
und Walnussöl unter Beigabe von Kolophonium in einem Tiegel selber kochte. Das Rezept kannte er noch von seinem Vater, der damals, als Jean-Louis in dessen Werkstatt Unruhe stiftete, das Holz für die Rohlinge der Pendulengehäuse selber behandelte. Sechsmal hintereinander legte Jean-Louis die Gebeine in das Bernsteinlackbad und trocknete sie hernach im stark geheizten Alkoven seines Gastzimmers. Nach jeder Trocknung rieb er jeden Knochen einzeln mit Bimsmehl ab, bis er weiß glänzte. Um die Härtung der Knochen noch zu verstärken, strich er die Gebeine anschließend fünfmal mit einem aus Kopalharz, Lavendelöl und Gummiarabicum zubereiteten Spirituslack ein, so dass auch die feinsten Poren und Risse geschlossen wurden und aus den spröden Knochen ein weiß glänzendes, hartes Elfenbein wurde. Dieses verarbeitete Jean-Louis nun in Stangen und Räder, in Hebel und Klappen, in kleine, feine Stifte und Gabelungen.
    Einer Turmuhr nachempfunden, baute er das Räderwerk dieser Spieluhr, als baute er an seinem eigenen Glück, als konstruierte er aus Hypothesen, Vermutungen und Befürchtungen Gewissheiten über seine eigene Identität. Diese Spieluhr, die viele Jahre später vom Volksmund »La Grande Dame« getauft wurde, war nicht nur sein kompliziertestes und ausgereiftestes Werk, sondern wurde, indem er seine eigene Geschichte durch die Gebeine seiner Geliebten in das Räderwerk einarbeitete, sein eigenes, ihn ganz umgebendes Haus. Während er an der Hemmung und an den Übersetzungen der Bewegungen für die verschiedenen Spiele arbeitete, war ihm, als hörte er Ana wieder, als begegnete er ihr noch einmal über den Weg der Akustik in ihrer Klangwelt, die ihr ganzes Wesen ausmachte.
Während er sich mit Anas Knochen in die ziselierten Gesetze der Mechanik vertiefte, hörte er Glocken, Violinen und Trompeten, Hunderte von Stimmen sangen Arien und Hymnen. Melodien und Akkorde fügten sich zu einer vielschichtigen Fuge. Mit jedem noch so kleinen aus Anas Knochen erstellten Einzelteil der Mechanik kam eine neue Stimme hinzu und öffnete eine weitere Dimension in diesem berauschenden Konzert. Je länger er an seinem ultimativen Uhrwerk arbeitete, umso klarer und deutlicher konnte er jeder einzelnen Stimme auf ihrem Weg durch das Labyrinth der Klänge folgen. Jeder Ton war ein Stift, jeder Klang ein Rad, das sich, in die anderen Räder verzahnt, bewegte.
     
    Ana selbst war jede einzelne dieser Stimmen, jedes Instrument, sie war es, die die Melodien dieses tausendstimmigen Chors sang, sie war jedes einzelne Rad dieses harmonischen Weltgetriebes. Während Jean-Louis an diesem akustischen Räderwerk arbeitete, baute er aus den Trümmern seiner eigenen Existenz einen neuen, fiktiven Androiden seiner selbst, ein Alter Ego, das wie der Phönix aus dem Knochenstaub seines Schicksals auferstand und durch die Mechanik der Spieluhr, welcher Jean-Louis durch das letztendliche Einsetzen der Unruh den bereits verloren geglaubten Lebensfunken zurückgab, eine verspätete Vermählung erlebte.
    Noch während Jean-Louis die fertig gebaute und am Boden des Federhauses mit »Invenit et Fecit JLS« signierte Spieluhr in den speziell für sie angefertigten, mit rotem Samt ausgeschlagenen Schmuckkasten einsetzte, hörte er ein leises Klopfen und wusste, dass die Totenuhr
geschlagen hatte. Seit er sich mit Anas Sarg auf seine verzweifelte Reise gemacht hatte, wusste Jean-Louis, dass
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