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Das Tal der Hundertjährigen

Titel: Das Tal der Hundertjährigen
Autoren: Ricardo Coler
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sein
     schien. Die Vorstellung, dass der Mann herrscht? Nicht in diesem Dorf. Dass es in der Natur der Frau liegt, heiraten zu wollen?
     Mitnichten. Dass man dem Vater Respekt zollen muss? Welchem Vater?
    Diesmal bin ich darauf eingerichtet, eine Zeitlang mit den Mosuo zu leben, sie zu interviewen und |178| mit Muße dem auf den Grund zu gehen, was mich bei meinem ersten Besuch auf unerklärliche Weise so fesselte und bewegte.
    Die Mosuo sind eine Gemeinschaft von fünfunddreißigtausend Menschen, in der die Frauen bestimmen, wo es langgeht, und Privilegien
     genießen, die den Männern versagt bleiben. Eine Art Paradies der Frauenbewegung. Ein Beispiel dafür, wie die Wirklichkeit
     aussehen kann, wenn die Spielfiguren einmal anders aufgestellt sind.
    Was passiert, wenn eine Gesellschaft nicht von Männern geführt wird und Männer nicht die Hauptnutznießer sind? Wie verändern
     sich die Beziehungen zwischen den Geschlechtern? In Luoshui ist die Frau nicht durch eine vom Machismo geprägte Erziehung
     konditioniert, hier gibt es kein schwaches Geschlecht.
    Ich selbst bin in einer genuin patriarchalischen Gesellschaft aufgewachsen. Wenn allerdings die Prognosen stimmen, dass in
     den westlichen Gesellschaften die Position des Mannes immer schwächer wird, kann es nicht schaden, sich schon jetzt damit
     vertraut zu machen, wie ein Matriarchat funktioniert.
     
    Von Peking aus, wo ich vor vier Tagen gelandet bin, habe ich das Land einmal durchquert, um schließlich |179| Kunming zu erreichen, die Hauptstadt der weitläufigen Provinz Yunnan. Im 13. Jahrhundert war die offizielle Währung in dieser
     Stadt die Meeresmuschel. Marco Polo berichtet in der Chronik seiner Reisen, dass vierzig Meeresmuscheln einer venezianischen
     Währungseinheit entsprachen. Der Wechselkurs muss günstig für die chinesischen Kaufleute gewesen sein, denn Kunming florierte.
     Heute gilt »die Stadt des ewigen Frühlings«, wie sie wegen ihrer beständigen milden Temperaturen heißt, als kommerzielles
     Zentrum von Yunnan und verfügt über eine stattliche Anzahl von Fünf-Sterne-Hotels.
    Weiterfliegen konnte ich von Kunming aus nur bis Lijiang, wo ich von Dorje, dem Fahrer, und Lei, meinem Dolmetscher, erwartet
     wurde. Zu zweit hielten sie ein improvisiertes Schild hoch, auf dem fehlerhaft mein Name geschrieben stand – was sich als
     vollkommen überflüssig erwies, denn ich war der einzige Nicht-Asiate im ganzen Flughafen.
    Die Altstadt von Lijiang teilt ein Fluss, der wegen der Schneeschmelze immer kaltes Wasser führt, und sie ist durchzogen von
     engen Kopfsteinpflastergassen und Kanälen, die an manchen Stellen direkt vor den Häusern vorbeifließen. Dort sieht man die
     Bewohner Töpfe und Geschirr in dem stetig fließenden Wasser abspülen, die Hände blau von |180| der Kälte. In der Tür eines dieser Häuser steht eine alte Frau mit riesiger Pfeife im Mund und zwei großen Weidenkörben auf
     der Schulter. Alter, Sonne und Bergluft haben ihr Gesicht gegerbt, kein Millimeter ist faltenlos. Sie bläst den Rauch in die
     Luft und grüßt mich.
    Die Provinz Yunnan weist weltweit die größte Konzentration an ethnischen Minderheiten auf. Es gibt hier mehr muslimische Chinesen
     mit weißen Wollmützen als Araber in ganz Saudi-Arabien. Die Naxi erkennt man an ihren blauen Schürzen, die Lisu überqueren,
     an einem Seil hängend, den Nujiang und kommen zum Einkaufen her, und die mit den roten Blumen an den Beinen, das sind die
     Bai-Mädchen. Die geschäftigen Zhuan tragen im Vergleich zu anderen Landsleuten immer das Doppelte an Gewicht auf ihren Schultern
     – ich weiß nicht, ob sie ihre Arbeit in der Hälfte der Zeit erledigen wollen oder ob sie vorsichtshalber stets das Doppelte
     von dem mitnehmen, was sie benötigen. Die Yi, wohl die zahlreichste Minderheit, sind auch schon von weitem unübersehbar: Die
     Frauen, bekleidet mit weißem Hemd und roter Weste, tragen schwarze Hüte von ungefähr einem Meter Durchmesser, die aussehen
     wie Dächer. Sie senken den Kopf, um fremden Blicken auszuweichen. Der Fremde bin ich. Unter all den traditionell gekleideten |181| Menschen bin ich mit Cargo-Hose, Reisehemd und Fotografenweste in diesem Teil von China eindeutig der exotischste Vogel und
     zweifellos der mit den meisten Taschen.
     
    Inzwischen haben wir die Zivilisation hinter uns gelassen. Eine Stunde ist vergangen, seit wir uns auf dem Gebirgspass einen
     Weg durch die Felsbrocken gebahnt haben, jetzt befinden wir uns im Land der
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