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Das Tal der Hundertjährigen

Titel: Das Tal der Hundertjährigen
Autoren: Ricardo Coler
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Bier. Irgendwas stimmt hier nicht, er ist anders als die
     anderen: Er ist der Erste, der verschlissene Jeans und ein Sweatshirt trägt. Und er sitzt einfach da, beackert nicht das Land,
     hat ein Bein hochgelegt und ruht sich aus. Genüsslich trinkt er sein Bier und beobachtet die Passanten.
    Das wäre doch ein schönes Foto.
    Man hat mir das »La Terraza« wärmstens als besten Mexikaner am Platze empfohlen. Zur letzten Mahlzeit auf dieser Reise schaffe
     ich es endlich hierher … Besser spät als nie. Ich setze mich an den Nachbartisch, gebe meine Bestellung auf und warte auf
     den geeigneten Moment, ihn zu fotografieren.
    Doch kaum hantiere ich mit meiner Kamera herum, sieht der Alte argwöhnisch zu mir herüber. Er holt sein Handy aus der Tasche
     und gibt Anweisungen durch – auf Englisch, mit britischem Akzent. Kurz darauf fährt ein ultramoderner Jeep vor; der Mann steigt
     ein, der korpulente Fahrer kommt herein, um die Rechnung zu bezahlen. Dann verschwinden sie gemeinsam auf der Allee der ewigen
     Jugend.
    Vor der Kneipe steht noch so ein Jeep, der mir bisher gar nicht aufgefallen war. Ich entdecke ihn erst, als er den Motor anlässt
     und dem anderen |153| folgt. Wer darin sitzt, ist nicht zu erkennen, die Scheiben sind getönt.
    Nachdenklich betrachte ich auf dem Display meiner Kamera das Foto, das ich gerade geschossen habe: Ein alter Mann trinkt Bier
     in einer Dorfkneipe.

[ Menü ]
    |154| 30
    Wenn ich von einer langen Reise zurückkehre, lasse ich immer zwei Tage verstreichen, bevor ich mich bei irgendwem zurückmelde.
     Achtundvierzig Stunden Ruhe, Zeit, die nur mir gehört. Niemand weiß, dass ich in der Stadt bin.
    Der erste Tag vergeht völlig entspannt, wie im Flug. Doch schon am zweiten holt mich mein schlechtes Gewissen ein.
    Als ich das letzte Mal bei meinen Eltern anrief, war alles in Ordnung. Da es sich um Ferngespräche handelte, war die Pflegerin
     bemüht, sich kurzzufassen. Sie teilte mir mit, was es Neues gab, und reichte den Hörer dann an meinen Vater oder meine Mutter
     weiter. Jedes Mal fragten sie, wo ich sei, wie es mir ginge und wann ich zurückkäme. Ich habe nie ein genaues Ankunftsdatum
     genannt, um mir einen gewissen Freiraum zu verschaffen. Das könnte ich so noch eine Weile weiterbetreiben.
    Meine Eltern sind nicht in der Lage, allein das Haus zu verlassen. Ein zufälliges Zusammentreffen |155| auf der Straße ist also unmöglich. Doch wenn sie so schwach und hilflos sind, warum inszeniere ich dann so eine Show? Warum
     nicht einfach anrufen und sagen: »Ich bin wieder da«? Sie fragen, ob sie etwas benötigen, und meinen baldigen Besuch ankündigen?
    Das Problem ist, dass die physikalischen Gesetze im Hause meiner Eltern eine andere Dimension haben und an Intensität gewinnen.
     Die Schwerkraft zum Beispiel. Sobald ich in das Kraftfeld gerate, kann ich ihm nicht mehr entfliehen. Ich habe das Gefühl,
     mein Körper ist auf einmal zentnerschwer und die Situation so bedrückend, dass ich die vier Wände nicht mehr verlassen kann,
     in denen sich der Alltag meiner Eltern abspielt. Unter solchen Umständen kommt einem die Liebe manchmal abhanden. Das Mitleid
     täuscht ein wenig darüber hinweg.
    Ich rufe an.
    »Hallo! Seit wann sind Sie zurück?«
    »Seit gestern.«
    »Wie ist es Ihnen ergangen?«
    »Gut, danke. Bei Ihnen alles in Ordnung?«
    »Ich kann nicht klagen, das Übliche.«
    »Könnte ich mit meiner Mutter oder meinem Vater sprechen?«
    »Ja … Aber ich wollte erst kurz mit Ihnen reden. Es geht um Ihren Vater.«
    |156| »Ist etwas passiert?«
    Wenn ich mit meinen Eltern sprechen will, muss ich erst die Hürde des »Vorzimmers« nehmen. Mir schwant nichts Gutes.
    Vor zwei Themen graut mir besonders: Das eine verfolgt mich offenbar auf Schritt und Tritt – die Ernährung. Die beiden Betreuerinnen
     befehden sich im wahrsten Sinne des Wortes bis aufs Messer, sobald es darum geht, was gesund und was für meinen Vater am besten
     ist. Das andere Thema betrifft den Altersstarrsinn meines Vaters. Er war immer ein guter und liebevoller Vater. Doch seit
     er so schwer krank ist, hat er sich in einen wahren Haustyrannen verwandelt. Man kann ihm kaum etwas recht machen; je abhängiger
     er wird, desto schlimmere Herrschsucht entfaltet er.
    Die Betreuerin teilt mir mit, mein Vater würde nachts kein Auge zutun und meine Mutter nicht schlafen lassen.
    »Er bekommt regelrechte Tobsuchtsanfälle. Ihre Mutter bittet ihn, Ruhe zu geben, aber er lässt nicht mit sich reden.
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