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Das Tal der Hundertjährigen

Titel: Das Tal der Hundertjährigen
Autoren: Ricardo Coler
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Yi. Am Straßenrand entdecke ich immer wieder dunkel
     gekleidete Frauen mit zurückgebundenem Haar und sogar kleine Mädchen, die sich, schwer beladen mit Körben voller Holzscheite,
     den Berg hinaufkämpfen – als wäre das Lastentragen Teil der weiblichen Natur.
    Dorje und Lei verstricken sich in ein offenbar hochinteressantes Gespräch auf Mandarin, stundenlang diskutieren sie, bis irgendwann
     hinter einer Kurve der Lugu-See vor uns auftaucht.
    Das Panorama ist überwältigend: ein himmelblauer Spiegel aus stillem Wasser mit ein paar Inseln. Am liebsten würde ich aussteigen
     und mich ganz und gar in die Betrachtung dieser Naturschönheit versenken.
    Endlich erreichen wir Luoshui. Vor dem Haus, in dem ich untergebracht sein werde, empfängt mich eine freundliche Dame und
     zeigt mir, wo ich mein |182| Gepäck abstellen soll. Nach und nach finden sich die anderen Bewohner des Hauses ein und beäugen mich neugierig, aber auch
     misstrauisch. Sie sprechen mit Lei und zeigen auf mich. Derweil sehe ich mich ein wenig um und gewahre, in gebührendem Abstand
     gegen einen Pfeiler der Galerie gelehnt, die Matriarchin. Zu meiner Überraschung ist es eine junge Frau. Mit ernstem Gesichtsausdruck
     und einem kurzen Kopfnicken begrüßt sie mich.
    ***
    Was hat mich hierher geführt?, frage ich mich, als ich endlich auf einer Pritsche in meinem Gastzimmer sitze, vor mir das
     noch unangetastete Gepäck. Ich wohne in einem für diese Gegend typischen Haus: Es ist aus Holz gebaut und verfügt über ein
     Erdgeschoss und ein weiteres Stockwerk. Die Zimmer gruppieren sich um einen überdachten Innenhof, auf den die Fenster hinausgehen.
     Meines ist offen, so dass ich deutlich die Stimme der Matriarchin vernehme, die ihre strengen Befehle erteilt. Sie heißt Yasi,
     ist, wie ich bereits erwähnte, auffallend jung, aber auch auffallend attraktiv und auffallend energisch und hat mich offenbar
     völlig vergessen, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ich gut untergebracht bin.
    |183| In einer Ecke des Hofes sitzen zwei Männer. Schnurstracks marschiert die Matriarchin mit ausgestrecktem Arm auf sie zu und
     herrscht sie lautstark an. Die Kerle springen auf, schnappen sich jeder einen Korb und rücken ab.
    Als wieder Ruhe einkehrt, wage ich, den Kopf aus dem Fenster zu stecken. Keiner mehr da, auch die Matriarchin ist verschwunden.
     Also traue ich mich in den Hof und erkunde das Terrain. Die Außenwände sind in Rot-, Blau- und Gelbtönen gestrichen. Wie bei
     einer Pagode haben die vorragenden Gesimse und Dächer spitze, nach oben gezogene Enden. Sie sehen aus wie türkische Pantoffeln.
     Die Tür zur Straße ist der Haupteingang, durch den soeben zwei mit Körben beladene Männer gesenkten Hauptes das Haus verlassen
     haben.
    Ich schlendere zum ältesten Gebäudeflügel hinüber, dem sogenannten traditionellen Haus. Auf dem Boden in der Mitte eines großen
     Raumes brennen den ganzen Tag über Holzscheite. Die Feuerstelle ist in jedem Mosuo-Haushalt von zentraler Bedeutung. Und natürlich
     ist die Frau dafür verantwortlich, dass das Feuer nie ausgeht.
    Die Wände um das Feuer sind verrußt, und in der Decke befinden sich fingerbreite Ritzen, durch die der Rauch entweichen kann.
     In diesem Teil des Hauses ist es immer warm. Hier wird gekocht, in |184| riesigen gusseisernen Töpfen, und später auch gegessen. Auf einem breiten Tisch steht schon das Geschirr bereit, von den Querbalken
     hängen ganze Schinken herab. In der Nähe des Feuers stehen an privilegiertem Platz zwei mit Lammfellen bedeckte Bänke. Sie
     sind besser gepolstert als die übrigen und dienen den älteren Frauen des Haushalts als Schlafstätte. Auf einem dunklen Möbel
     harrt ein von Opfergaben umgebener Buddha der Gebete. Der Raum ist Küche, Esszimmer, Schlafsaal und Altar zugleich, ein Versammlungsort,
     an dem sich der größte Teil des Alltags abspielt und wo Besucher mit einer Tasse Buttertee empfangen werden.
    Ich gehe wieder hinaus und über den Hof in den gegenüberliegenden Flügel, wo sich die Wohnräume der erwachsenen Frauen der
     Familie befinden und wo das Liebesleben der Mosuo stattfindet. Während die Männer in den Gemeinschaftsräumen bei ihren Müttern
     leben, hat jede Frau nach der Initiationszeremonie, die den Eintritt in das Erwachsenenalter markiert, Anrecht auf ein eigenes
     Zimmer, in das sie sich zurückziehen kann, in dem sie ihre persönlichen Habseligkeiten aufbewahrt und ihre Liebhaber empfängt.
     Es kommt nur der
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