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Das Tal der Hundertjährigen

Titel: Das Tal der Hundertjährigen
Autoren: Ricardo Coler
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|166| unberührter Natur bedeutet, dass man der Natur eine Weisheit unterstellt, für die wir erst im Urwald durch Moskitostiche empfänglich
     werden. Folgt man dieser Logik, verbirgt sich hinter der Suche nach einem längeren Leben die Auffassung, dass ein Mensch und
     sein Körper ein und dasselbe sind und dass sich alles auf Lust und Leiden reduzieren lässt – eine traurige Vorstellung.
    Mit der Behauptung, der Mensch sei lediglich das Ergebnis seiner Biologie, ordnet man ihn letztlich dem Reich der Tiere zu.
     Wenn unser Denken und Handeln allein von unserer Chemie gesteuert würde, brauchten wir nicht länger darüber zu philosophieren,
     was der Mensch ist – dann wäre er eine Maschine. Auch wenn das in mancher Hinsicht zutreffen mag, ist unsere Gattung doch
     immer wieder für eine Überraschung gut.
    Vielleicht wird man irgendwann, wenn man jemanden kennenlernen will, sich nicht mehr mit ihm unterhalten, sondern ihn um Einsicht
     in seine Blutwerte bitten. Möge dieser Tag niemals kommen.
    Es gibt einen bemerkenswerten Unterschied zwischen den alten Menschen in Vilcabamba und meinem Vater: Die Bewohner des heiligen
     Tals werden über hundert und sind dabei gesund und munter. Mein Vater aber ist unsterblich.
    ***
    |167| Während des Schreibens an dieser Reisechronik haben mich einige Bücher begleitet. Mit einigen Themen habe ich Neuland betreten,
     für andere begeistere ich mich schon seit längerer Zeit.
    Was die Theorie zur Langlebigkeit angeht, sind insbesondere die Forschungen von Leonard Hayflick zu Lebenserwartung und biologischen
     Grenzen hervorzuheben. Ebenso die Arbeiten von S. Jay Olshansky und Bruce A. Carnes (u. a.
Das Streben nach Unsterblichkeit
). Mein Blick auf die Wissenschaft veränderte sich entscheidend durch die Lektüre des Werkes
Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen
von Thomas S. Kuhn, aber auch durch die Beiträge von Jakob von Uexküll, Alexandre Koyre und Gaston Bachelard sowie Georges
     Canguilhems
Das Normale und das Pathologische
. Weitere wertvolle Texte waren mir der erste Band von Foucaults
Die Geschichte der Sexualität
; Philippe Ariès’ Studien zur Geschichte des Todes im Abendland; Giorgio Agambens
Homo Sacer: Souveräne Macht und bloßes Leben
sowie
Das Offene
; Alain Badious
Das Sein und das Ereignis
; ein Band mit Aufsätzen von Deleuze, Foucault und Agamben zur Biopolitik; Paula Sibelias
El hombre postorgánico
. Und natürlich, nicht zu vergessen, Kafkas
Brief an meinen Vater
und
Ein sanfter Tod
von Simone de Beauvoir. Endlich fand ich auch |168| die Zeit, Stephen Hawkings
Eine kurze Geschichte der Zeit
und
Das Universum in der Nussschale
zu lesen.
    Ich danke meinen Eltern, ohne die ich dieses Buch nicht hätte schreiben können.

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    |169| Nachtrag
    Das Buch war bereits fertiggestellt, da erhielt ich unerwartet das Angebot, nach Japan zu reisen. Mitte Mai kam ich in Tokio
     an, und nachdem ich ein paar Tage lang die Stadt erkundet hatte, flog ich weiter nach Okinawa, die größte der Ryukyu-Inseln.
     Am dichtesten besiedelt ist der Süden. Dort befindet sich auch die Hauptstadt Naha, wo ich mit dem Flugzeug ankam. Wie so
     oft lag der Ort, den ich besuchen wollte, Ogimi, fünf Autostunden entfernt im Norden der Insel.
    Ogimi ist ein kleines Dorf mit dreitausendfünfhundert Einwohnern am Südchinesischen Meer. Am Ortseingang erhebt sich ein dunkles,
     dreieckiges Steindenkmal von der Größe eines Menschen. Es ist dem langen Leben geweiht. Das Dorf ist stolz darauf, dass seine
     Bewohner so lange leben. Länger als irgendwo sonst in Japan.
    Okinawa ist eine Referenz in der medizinischen Literatur zur Langlebigkeit. Die Bewohner gelten als ein Musterbeispiel für
     gesundes Leben, und den |170| ersten Platz auf der Ehrentafel der Insel nehmen die alten Leute Ogimis ein.
    Die sehr alten Menschen haben hier den Status von Filmstars. Als Ältester in Ogimi genießt man Weltruhm. Journalisten aus
     aller Herren Länder reisen an für eine Reportage rund um das Geheimnis des Jungbleibens. Sie möchten aus berufenem Munde etwas
     hören, das sie veröffentlichen und das andere nachahmen können.
    Warum leben sie so lange? Weil sie Musterschüler sind, wenn es darum geht, ärztliche Ratschläge zu befolgen. Ogimi ist gewissermaßen
     die Kehrseite von Vilcabamba.
    Sie essen wenig. Obst und Gemüse bauen sie in eigenen Gärten an, und Algen sind fester Bestandteil des Speiseplans. Man könnte
     den Verzehr von Fisch und seine positive Auswirkung auf die
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