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Das Tal der Hundertjährigen

Titel: Das Tal der Hundertjährigen
Autoren: Ricardo Coler
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ich von Lenin persönlich.
    »Du heißt Lenin? War dein Vater in der Kommunistischen Partei?«
    »Nein, den Namen hat mir mein Großvater gegeben, er ist einhundertsechsundzwanzig geworden.«
    »War er in der Kommunistischen Partei?«
    »Nein. Er wusste nicht einmal, was Kommunismus ist. Jemand hatte ihm etwas von einem gewissen Lenin erzählt, er fand, das
     klang gut, und sagte zu meinem Vater, er solle mir diesen Namen geben.« Die Standardantwort eines Mannes, der keine Lust mehr
     hat, immer auf dieselbe Frage antworten zu müssen.
    |46| Der dritte im Bunde ist Víctor Carpio. Ich kann mich glücklich schätzen, dass er sich bereit erklärt hat, uns zu begleiten.
     Denn Victor ist das Gedächtnis des Dorfes. Er hat mit Japanern und Amerikanern zusammengearbeitet. Mit Wissenschaftlern und
     mit dem Fernsehen. In Vilcabamba gilt er als der Kontaktmann schlechthin und als unerschöpfliche Quelle vertrauenswürdiger
     Informationen.
    Wir parken vor dem Haus von José Medina und klatschen in die Hände, damit man uns empfängt. José Medina ist einhundertzwölf
     Jahre alt.
    »Es kommt keiner«, bemerke ich, offenbar zu ungeduldig.
    »Der Mann ist ein wenig taub, aber seine Schwester hört gut.«
    »Wie alt ist die Schwester?«
    »Einhundertvier.«
    Doch es taucht niemand auf. Lenin vermutet, dass die Frau Einkäufe erledigt und bald zurück sein wird. Wir laufen um das Haus
     herum, hinter dem Gebäude befindet sich ein Stück Land, auf dem die Medinas einen Teil ihrer Lebensmittel anbauen: Salat,
     Mais und Bohnen.
    Lenin verschwindet hinter einem Fels und ruft uns.
    José Medina ist gerade damit beschäftigt, die |47| Erde mit einer Hacke zu bearbeiten. Ein kurzer Blick, dann wendet er sich wieder seinem Werk zu, als sei unsere Anwesenheit
     kein Grund, es zu unterbrechen. Víctor sagt mir, ich solle genau hinschauen, was José Medina macht. Das tue ich. Er trennt
     die Nutzpflanzen vom Unkraut. Dafür braucht man gute Augen und einen präzisen Hieb. Ich staune: Trotz seiner einhundertzwölf
     Jahre scheint das für José Medina kein Problem zu sein. Er braucht nicht einmal eine Brille. Wie die meisten Bauern in Vilcabamba
     trägt er eine schwarze Stoffhose und ein weißes Hemd. Ich, der Besucher, trage eine wind- und wasserfeste Cargo-Hose und ein
     Outdoor-Hemd mit Dry-Fit-Technologie …
    Ich frage ihn, ob er sich einen Moment Zeit nehmen würde, damit wir uns kurz unterhalten können. Auf den Stiel seiner Hacke
     gestützt, steht er da und rührt sich nicht. Víctor erzählt, vor zwei Wochen sei eine Gruppe Kanadier hier gewesen, die ihn
     kennenlernen wollten, und letzten Monat ein Fernsehteam aus Hongkong, um ihn zu interviewen.
    »Klar, er reagiert nicht, weil er es leid ist, dass man ihn ständig belästigt. Und ob ich Spanisch spreche oder nicht, ist
     vermutlich egal, ich bin für ihn trotzdem ein Fremder.« Ich habe Verständnis und bin dennoch enttäuscht.
    |48| »Nein, er reagiert nicht, weil er dich nicht hört. Sprich ein wenig lauter.«
    Mir wird bewusst, dass ich schon völlig ausgeblendet habe, dass es sich trotz allem um einen alten Mann handelt. Wie er da
     so mit seinen einhundertzwölf Jahren im Berg herumkraxelte und mit seiner Hacke herumfuchtelte, war er mir aller irdischen
     Gebrechen enthoben erschienen.
    José Medina setzt sich. Unter seinem Hut schaut das immer noch schwarze Haar hervor, es reicht ihm bis in die Stirn. Ich entdecke
     beneidenswert wenige graue Haare in seinem Bart.
    »War das ein Beben heute Nacht! Nicht wahr, Don José?«
    Ich halte das für ein geeignetes Thema, um ins Gespräch zu kommen, doch Don José begeistert sich nur mittelmäßig dafür.
    Víctor wechselt das Thema und erkundigt sich nach José Medinas Befinden. Er fragt ihn nicht »Wie geht es dir?«, sondern, seinem
     hohen Alter angemessen, »Wie fühlst du dich?«.
    »Gut, nur wenn ich rauche, wird mir ein wenig schwindelig.«
    »Wie, wenn er raucht?«, frage ich Víctor verblüfft.
    »Chamico«, antwortet er. Don José rauche, wie alle im Dorf, die getrockneten Blätter vom Stechapfel. |49| Schon die Schamanen hätten sich an dem Kraut erfreut. Die Wirkung sei mit der von Marihuana vergleichbar, bei steigender Dosis
     auch mit der von Kokain: Halluzinationen, Traumbilder, Gedächtnisverlust, Erregung bis hin zur Raserei. Der Stechapfel zählt
     zu den toxischen Pflanzen, aber er soll auch einen aphrodisierenden Effekt haben.
    Ich bin einigermaßen fassungslos. Da treffe ich den ersten
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