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Das Tal der Hundertjährigen

Titel: Das Tal der Hundertjährigen
Autoren: Ricardo Coler
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Edison de la Guerra habe ich eine Woche zuvor in der Academia
     Nacional de Medicina kennengelernt. Ein Freund von mir hatte dort einen Kongress zum Thema Wissenschaft und Kultur organisiert.
     Da er von meinen Reiseplänen wusste, hatte er mich eingeladen, um mir Edison vorzustellen, der aus Ecuador angereist war.
     Wir waren uns gleich sympathisch, und Edison beteuerte, dass es ihm ein Herzenswunsch sei, mich in Quito zu empfangen.
    Am nächsten Tag fliege ich weiter nach Loja. Erst |33| in der Check-in-Halle fällt mir das Logo der Fluggesellschaft auf: Ein Mann mit Flügeln – sie trägt den Namen Ícaro. Ikarus!
     Ob dieser Name für eine Airline die treffende Wahl ist, darüber lässt sich streiten. Ikarus ist in den Himmel aufgestiegen
     und seinem Gefängnis auf Kreta entkommen, unbenommen; aber später sind ihm die Flügel geschmolzen, und er stürzte ins Meer.
     Musste das Flugzeug, mit dem ich fliegen wollte, ausgerechnet so heißen?
    Ich komme heil an meinem Zielort an. Die Ankunftshalle des Flughafens von Loja ist winzig. Die Wartenden stehen hinter einer
     Scheibe und schauen zu, wie die Passagiere ihr Gepäck abholen. Ich entdecke nur einen einzigen Mann, der gekleidet ist wie
     für ein Meeting in der Führungsetage. Grauer Anzug, weißes Hemd, passende Krawatte, rasierter Kopf, auf dem Rücken verschränkte
     Arme. Ich trete vor die Glaswand und bleibe direkt vor ihm stehen. Er schaut an mir vorbei, als suche er jemand anderen. Ich
     nehme meinen Rucksack, schiebe den Schirm meiner Kappe in den Nacken und halte mich Richtung Ausgang. Das war die letzte Ankunft,
     der Flughafen würde binnen kurzem schließen. Die nächstgelegene Stadt ist eineinhalb Stunden Fahrt entfernt, ich stehe mitten
     im Niemandsland.
    |34| Ich überlege: Der Manager-Typ könnte sehr wohl zu dem panamerikanischen Medizinernetz gehören, das sich um mein Wohlbefinden
     kümmert. Wenn nicht, hätte ich ein Problem. Wie käme ich wieder fort von hier? Der Mann steht noch immer wartend vor der Scheibe.
     Ich gehe auf ihn zu und frage ihn, ob er jemanden erwarte.
    »Doktor Coler? Verzeihung, ich habe Sie nicht erkannt.«
     
    Irgendwo auf dem Weg von Loja nach Vilcabamba soll ein Teil des Schatzes der Inka vergraben sein. Eine unvorstellbare Menge
     an Gold.
    Der Legende nach – es existieren mehrere Varianten – entführten die Spanier, als sie in das Gebiet kamen, den Inka-Führer
     Atahualpa. Für seine Freilassung verlangten sie ein Zimmer gefüllt mit Gold, so hoch, wie der gestreckte Arm des Gefangenen
     reichte. Um der Forderung nachzukommen, trugen Atahualpas Leute Gold aus allen Winkeln des weitläufigen Reiches zusammen.
     Die Boten überbrachten die Nachricht an den Bestimmungsort, das Gold wurde verladen, die Karawanen setzten sich in Bewegung.
    Doch dann fand die Entführung ein unerwartetes Ende: Atahualpa wurde enthauptet, und die Spanier flohen, bevor die Beute vollständig
     eingetroffen |35| war. Als die Karawanenführer von der Ermordung ihres Herrschers erfuhren, beschlossen sie, das Gold auf dem Weg zu verstecken.
     Sie wollten es vor der Gier der Konquistadoren retten.
    »Und es ist hier vergraben?«
    »Ja, irgendwo.«
     
    Wir erreichen Vilcabamba. Am Eingang des Dorfes wird der Besucher darüber aufgeklärt, dass der Ort 1565 Meter über dem Meeresspiegel
     liegt, viertausendzweihundert Einwohner zählt und eine Durchschnittstemperatur von zwanzig Grad aufweist. Kurz darauf entdecke
     ich ein weiteres Schild, das farbenfroh verkündet: »Welcome – Vilcabamba«. Darunter ist das Gesicht eines Hundertjährigen
     gemalt, der nicht so aussieht, als habe er vor, sich demnächst zur Ruhe zu setzen, und der in heiterer Gelassenheit auf sein
     Tal blickt.

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    Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen der biologischen und der tatsächlichen Lebenserwartung. Die biologische Lebenserwartung
     kann man sich als eine lange Straße vorstellen, die etwa einhundertzwanzig Jahre misst. Wenn wir gesunde Gene haben, uns ausreichend
     vor Krankheiten schützen, in einer extrem sauberen Umwelt leben und unser Haus außer für Arztbesuche nicht verlassen, könnten
     wir mit etwas Glück dieses Alter erreichen, mehr nicht. Mit einhundertzwanzig Jahren stellen die Zellen, ganz gleich wie gesund
     und intakt sie sind, ihre Funktion ein. Davon wenigstens geht die Wissenschaft bisher aus und bestätigt damit einen weitverbreiteten
     Glauben: Wir alle werden irgendwann sterben.
    Die tatsächliche
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